Sizilianischer Kardinal: Nicht Flüchtlinge bekämpfen, sondern die Armut

Sizilianischer Kardinal: Nicht Flüchtlinge bekämpfen, sondern die Armut

Flucht und Asyl ‐ Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern soziale Ungerechtigkeit. Das betont der sizilianische Kardinal Francesco Montenegro vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um Seenotrettung im Mittelmeer. Als Erzbischof von Agrigent beobachtet er seit Jahren, wie die Jugend aus seiner Heimat auswandert und der Süden ausblutet. Einziger Profiteur dieser Misere: die Mafia. Ein Besuch am Bischofssitz in Agrigent.

Erstellt: 23.07.2019
Aktualisiert: 23.07.2019
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Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern soziale Ungerechtigkeit. Das betont der sizilianische Kardinal Francesco Montenegro vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um Seenotrettung im Mittelmeer. Als Erzbischof von Agrigent beobachtet er seit Jahren, wie die Jugend aus seiner Heimat auswandert und der Süden ausblutet. Einziger Profiteur dieser Misere: die Mafia. Ein Besuch am Bischofssitz in Agrigent.

Frage: Kardinal Montenegro, die Diskussion um die deutsche Aktivistin Carola Rackete und die Seenotrettung durch die Organisation Sea Watch wird in Deutschland und Italien noch immer stark geführt. Wie hat die Kirche in Agrigent, also am Ort des Geschehens, reagiert?

Kardinal Francesco Montenegro: Die Aufnahme von Flüchtlingen gehört für uns im Erzbistum Agrigent zur Normalität. Wir befinden uns hier im äußersten Süden: die Insel Lampedusa, die auch zum Erzbistum gehört, liegt näher an Afrika als an Europa. Die Inselbewohner dort sind es gewöhnt, dass man an ihre Türen klopft. In Lampedusa kamen in Hochphasen 10.000 Flüchtlinge auf 5.000 Einwohner. Die Inselbewohner haben die Flüchtlinge bei sich zuhause aufgenommen, gaben ihnen zu Essen, eine Waschmöglichkeit und neue Kleidung. Wer das nicht konnte, stellte Thermoskannen mit Kaffee oder Tee vor die Haustür, damit die Flüchtlinge sich daran bedienen konnten. Die Aufnahmebereitschaft war im Süden immer stark.

Frage: Hat sich das nun geändert?

Montenegro: Es hat sich etwas geändert, weil sich die Politik verändert hat. Wir erleben derzeit das Syndrom der Angst. In dieser Situation, in der alle von Angst und Terrorismus sprechen, schließen sich die Türen – vor allem die Türen der Herzen. Das ist das größte Bekümmernis. Den Menschen Angst zu machen, ist dann sinnvoll, wenn es eine ernsthafte Bedrohung gibt. Aber alle Flüchtlinge als Verbrecher zu bezeichnen, ist so beleidigend, wie wenn ich als Sizilianer in Deutschland sofort als Mafioso abgestempelt werde. Das Urteil über die Flüchtlinge ist einfach zu verallgemeinernd.

Bild: © Claudia Zeisel/weltkirche.de

„EU ist für mich die Abkürzung für ‚Egoisten-Union‘.“

—  Zitat: Kardinal Francesco Montenegro

Frage: Dennoch ist ein Großteil der Italiener – darunter viele Katholiken – für eine strengere Einwanderungspolitik à la Salvini. Können Sie die Ängste und Bedenken der italienischen Bürger nachvollziehen?

Montenegro: Auf gewisse Art und Weise ja. Aber die Menschen lesen keine Zeitung und manchmal steht auch dort nicht die ganze Wahrheit. Wir lesen und hören von einer Invasion und dass diese Flüchtlinge uns den Arbeitsplatz wegnehmen. Die Desinformation erhöht die Ängste der Menschen. Salvini nutzt dieses Syndrom der Angst bewusst oder unbewusst. Und die Menschen sind nicht wirklich in der Lage, die Wahrhaftigkeit dieser Aussagen zu beurteilen. Deshalb lassen sich viele davon erschüttern und bedrücken. Zum Fest des Heiligen Calogerus von Sizilien, das hier in diesen Tagen gefeiert wurde, habe ich eine Predigt gehalten, in der ich die Christen dazu aufrufe, diese Wirklichkeit mithilfe des Evangeliums zu lesen und zu beurteilen. Ich kann sie nicht auf Grundlage der Politik bewerten, weil hier andere Interessen zählen und andere Spiele gespielt werden. Das Evangelium ist da eindeutiger. Der Herr fragt mich: Auf welcher Seite stehst du? Auch wenn ich mich dann für die Seite entscheide, die er mir aufgezeigt hat.

Frage: Italien wurde von der EU und auch von Deutschland bei der Rettung und Aufnahme von Flüchtlingen lange alleingelassen. Was erhoffen Sie sich nach den jüngsten Europawahlen und der neu besetzten EU-Kommission?

Montenegro: Ich erwarte das, was wir schon lange erwartet haben und was doch nie eingetroffen ist. Ich war als Präsident der italienischen Caritas und der Fondazione Migrantes zu Gast beim Europarat, ich reiste nach Brüssel, Straßburg und Genf. Aber dort sagte man mir klar und deutlich: Wenn sich nicht alle EU-Länder einig werden, ist es unmöglich, Lösungen zu finden. Man sagte mir: Bringen Sie mal 28 Staaten auf eine gemeinsame Linie! Dort zählen zuerst die Interessen des eigenen Landes und nicht die jener, die neu ankommen.

Am schlimmsten ist aber, dass Europa die Wirtschaft und die Finanzen ins Zentrum gestellt hat. Der Mensch hat darin keinen Platz. Ich nenne die EU nicht Europäische Union, sondern Egoisten-Union, auch wenn wir manchmal so tun, als wäre es eine Gemeinschaft. Wir sind nicht in der Lage, das Problem der Armut anzugehen, das die Wirklichkeit mehr entstellt als alles andere. Ich sage immer: Die Migration ist nicht das Problem, sondern die soziale Ungleichheit. Und Europa ist auch mitverantwortlich für die Armut in Afrika. Wenn die Menschen dort fliehen, hängt das auch damit zusammen, dass Europa mit den Waren und den Menschen dort spielt. Wir versuchen, Afrika klein zu halten, aber so kann die Welt sich nicht ändern. Diese Zukunft ist auf Angst gebaut. Wir haben die Mauern des vergangenen Jahrhunderts eingerissen und gerufen: Es lebe die Freiheit! Heute bauen wir unsere Zukunft mit neuen Mauern auf.

Bild: © KNA

„Die Politik der Schreie und Beleidigungen hat auf lange Sicht keinen Bestand.“

—  Zitat: Kardinal Francesco Montenegro

Frage: In diesem Monat erinnerte die Kirche an den Besuch von Papst Franziskus auf Lampedusa. Frustriert es sie, dass sich seither der Umgang Italiens und der EU mit dem Thema Migration nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat?

Montenegro: Die Situation hat sich verschlechtert, weil die Politik derzeit diese Spiele spielt. Doch der Papstbesuch auf Lampedusa hatte eine große Bedeutung. Er hat die Blicke auf diesen Ort gezogen. Die Gleichgültigkeit hat uns dazu gebracht, die Augen davor zu verschließen. Viele mussten und wollten zuhören, als der Papst auf dieses Fleckchen Erde reiste und von dort aus das Recht des armen Mannes verteidigte. Es ist wichtig, dass jemand an diese Menschen erinnert. Es wäre schön, wenn sich alle an die Worte dessen halten würden, der an die Flüchtlinge erinnert. Aber man kann auf jeden Fall sagen, dass viele mit dem Papstbesuch angefangen haben, anders über die Migration zu nachzudenken. Die Reise war nicht umsonst, sie hat die Seelen aufgerüttelt. Schon bei einem kleinen Kratzer spürt man etwas.

Frage: In den Medien ist von zwei Gegnern die Rede: Papst Franziskus und Salvini. Ist das eine neue Aufgabe für die Kirche, sich gegen Populismus in unseren Gesellschaften zu stellen?

Montenegro: Ich denke, wir machen den Papst kleiner als er ist, wenn wir ihn als Gegner Salvinis darstellen. Ein Papst kann sich ebensowenig wie ein Bischof oder allgemein ein Christ gegen jemanden stellen. Ich vermeide auch das Wort „Anti-Mafia-Priester“. Wenn ich Priester bin, dann, weil ich das Evangelium zu verkünden habe. Der Papst macht nichts anderes: Er verkündet das Evangelium, wie er es immer getan hat. Heute, in einem Kontext, in dem ein Salvini das sagt, was er meint, sagt der Papst auch weiterhin, was er meint. Aber er tut das nicht auf der gleichen Ebene wie Salvini. Denn er muss keine Wahlen gewinnen und braucht sich nicht um Mehrheiten kümmern, so wie vielleicht Salvini. Es ist wichtig, dass der Papst sich weiterhin äußert, so wie auch andere sich äußern müssen. Ich glaube aber, dass eine Politik der Schreie und Beleidigungen auf lange Sicht keinen Bestand haben wird. Sie wird früher oder später anfangen zu bröckeln. Diese Politik erzeugt Spaltungen und Brüche in der Gesellschaft, das Evangelium erzeugt Einheit und Gemeinschaft.

Bild: © Claudia Zeisel/weltkirche.de

„Aus der sizilianischen Provinz Agrigent sind 155.000 Menschen fortgegangen.“

—  Zitat: Francesco Montenegro, Erzbischof von Agrigent

Frage: Sie betonen, dass die soziale Ungleichheit das Hauptproblem ist. Auch in Italien und besonders auf Sizilien ist die Armut groß ...

Montenegro: Aus der Provinz Agrigent auf Sizilien sind 155.000 Menschen ausgewandert. Das ist eine Großstadt, die fortgegangen ist. Von hier fahren sie busseweise in den Norden.

Frage: Das führt dazu, dass die Bevölkerung Siziliens auf einen historischen Tiefstwert gesunken ist: Aktuell leben noch fünf Millionen Sizilianer auf ihrer Insel …

Montenegro: Der Grund ist die soziale Ungerechtigkeit. Es gehen viele junge Leute – normalerweise die Fähigsten, weil sie auch mehr Mut haben. Und auch Afrika verliert seine Jugend. Welche Zukunft haben die Länder, die all diese jungen Menschen hinter sich lassen? Ich sehe hier in Sizilien in den Orten nur noch wenige junge Leute. Das bereitet mir Sorgen. Es ist einerseits gut, dass unsere Intelligenz ins Ausland geht. Aber es wäre noch schöner, wenn sie mit den neuen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Tages hierher zurückkäme.

Frage: Was macht die Kirche in Agrigent, um den Menschen in Armut und Not zu helfen?

Montenegro: Wir versuchen auch mit Hilfe der Caritas Projekte zu verwirklichen. Wir versuchen, den Jugendlichen dabei zu helfen, eine Arbeitsmöglichkeit zu finden. Früher bekam man einen Arbeitsplatz angeboten und hatte ihn dann auf Lebenszeit. Wenn du heute Arbeit finden willst, musst du sie nicht nur suchen, du musst sie dir auch neu erfinden, kreativ sein. Wir haben hier in Agrigent ein kleines Diözesanmuseum und andere kleine Bereiche, wo Jugendliche eine Tätigkeit finden. Aber warum knirsche ich mit den Zähnen und will, dass diese Jugendlichen bleiben? Sie gehen sonst fort. Dieses Land braucht doch Jugendliche, die es lieben.

Bild: © Jörn Neumann/DBK

„Die Mafia hat ein Interesse daran, dass die Armut bleibt.“

—  Zitat: Francesco Montenegro, Erzbischof von Agrigent

Frage: Die Mafia zieht auch junge Leute an, die keine andere Perspektive haben. Gibt es also auch eine Art „Migration“ zur Mafia?

Montenegro: Es ist weniger Migration denn Jobsuche. Wenn ich mit 30, 40 Jahren keinen Job finde, weil es hier keine Arbeit gibt, dann denke ich vielleicht in meiner Verzweiflung nicht darüber nach, was diese Leute mir für eine Aufgabe geben.

Frage: Was würden Sie diesen jungen Menschen denn raten?

Montenegro: Ich rate ihnen, aufzupassen. Setzen wir uns zusammen und schaffen wir eigene, neue Arbeitsmöglichkeiten. Denn eine Waffe, eine Pistole, eine Drohung machen mich nicht zu einem Menschen. Damit kann ich mich nicht verwirklichen und die Person werden, die ich eigentlich bin. Es gibt auch junge Migranten, die Gefahr laufen, in die Fänge der Mafia zu geraten. Diese jungen Kerle haben nichts zu tun, warten in ihren Unterkünften, schauen Fernsehen in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Wären wir in einer solchen Situation, ginge es uns vielleicht die ersten Tage noch gut. Aber nach einer Woche würden wir uns auf den Füßen herumtreten. Es gibt viele kriminelle Hilfsarbeiten. Die Mafia sagt dann zu den jungen Migranten: Ich gebe dir Arbeit, dann kannst du deine Familie ernähren. So geraten sie auf die schiefe Bahn. Das ist traurig.

Frage: Das heißt, auch Migranten geraten in mafiöse Kreise.

Montenegro: Ja. Die Mafia hat ein Interesse daran, dass die Armut bleibt. So schafft sie Abhängigkeiten. Wenn die jungen Leute trotz Uniabschluss keine Arbeit finden, wenn sie fortgehen, weil sie keine Perspektive haben – wo landen sie dann? Die Mafia hat ein Auge auf sie und macht ihnen verlockende Angebote.

Frage: Gibt es von der Kirche Initiativen, die dieses Problem angehen?

Montenegro: Ja, die Kirche hat auch auf nationaler Ebene ein Projekt gestartet, mit dem sie jungen Menschen hilft, neue Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Das wurde auch in vielen Diözesen umgesetzt. Wir haben eine gemeinnützige Stiftung eingesetzt und Geld investiert. Das müssen wir tun, denn wenn wir es nicht tun, wer dann? Der italienische Staat schafft es nicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Und einer von zwei jungen Italienern ist arbeitslos.

Bild: © Claudia Zeisel/weltkirche.de

„Dieses Land braucht Jugendliche, die es lieben.“

—  Zitat: Francesco Montenegro, Erzbischof von Agrigent

Frage: Wie kann die Kirche in den Sozialen Medien noch stärker auf die Jugend zugehen?

Montenegro: Ich denke, dass die Kirche hier schon ganz gut aufgestellt ist. Heute kommuniziert man eben auf diesem Weg. Die Erwachsenen verstehen davon vielleicht noch nicht so viel und nutzen die klassischen Medien wie Zeitung, Fernsehen oder Radio. All diese Medien haben wir auch in unserer Diözese. Aber für die Jugendlichen müssen wir neue Angebote schaffen. Wichtig ist, dass die Frohe Botschaft verkündet wird. Das heißt nicht, dass wir nur das Ave Maria beten. Sondern auch die Freude des Lebens vermitteln, die Freude, den anderen und sich selbst kennenzulernen. Diese Kommunikationsmittel sollten dabei helfen, den eigenen Panzer abzulegen.

Frage: Könnte dadurch auch eine Gegenöffentlichkeit zu den Ängsten und dem Hass entstehen, die sich zunehmend im Internet niederschlagen?

Montenegro: Ja, nur leider nutzen wir diese Kommunikationsmittel nicht dafür. Heute reicht es, dass schon zwei Menschen sich nicht einig sind und sich gegenseitig beleidigen, schlagen oder gar umbringen. Der Papst betont es immer wieder: Diese Medien müssen dafür genutzt werden, das Gute zu suchen. Als Präsident der Caritas habe ich gesehen, wie viele Jugendliche Gutes tun. Dutzende Jugendliche gehen am Samstagabend und am Sonntag, während die anderen in den Pizzerien sitzen, zum Bahnhof, um Obdachlose zu besuchen, sie von Fäkalien zu reinigen, bei ihnen zu übernachten. Oder sie arbeiten mit behinderten Menschen. Es ist wahr, dass ein gefällter Baum mehr Lärm macht als ein wachsender Wald. Wir müssen aber auch so ehrlich sein, dass wir das Positive sehen können. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass alles verfehlt ist. Die Jugendlichen leben vielleicht ein normales Leben, chatten und gehen in die Pizzeria. Aber sie interessieren sich noch für den Anderen.

Das Interview führte Claudia Zeisel.

© weltkirche.de