Pell ist der weltweit ranghöchste katholische Kleriker, der von einem weltlichen Gericht wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde. In seiner australischen Heimat galt der ehemalige Rugbyspieler als kontroverser, medienaffiner „Kulturkämpfer“ der Konservativen und Klimawandelskeptiker in Politik und Gesellschaft. Heikle Vorwürfe gegen den ehemaligen Erzbischof von Melbourne und Sydney gibt es bereits seit dessen Zeit als einfacher Priester in Ballarat. Immer wieder tauchte der Vorwurf auf, er habe Jugendliche missbraucht oder Missbrauchsfälle vertuscht.
1996 entwickelte Pell die „Melbourne Response“ als Standardregelwerk der Erzdiözese zum Umgang mit Missbrauch. Ein zentraler Punkt waren Entschädigungszahlungen an Betroffene, die sich im Gegenzug zum Schweigen verpflichteten. „Im Missbrauchsskandal hat er immer als Vertreter der Institution Kirche gehandelt, nie als Seelsorger“, kritisiert der australische katholische Theologe Neil Ormerod.
Wie auch immer das Berufungsverfahren gegen den Kardinal endet, erledigt ist die Angelegenheit damit noch lange nicht. In Melbourne sind zwei Zivilklagen weiterer mutmaßlicher Missbrauchsopfer gegen Pell anhängig, die ihm weiteres Ungemach bescheren könnten. In Zivilverfahren reicht schon eine „hinreichende Wahrscheinlichkeit“ für ein Urteil aus. Nach Abschluss all dieser Verfahren ist darüber hinaus ein weiterer Strafrechtsprozess gegen Pell wegen Falschaussage und Behinderung der Justiz im Zusammenhang mit seinen Angaben vor der staatlichen Missbrauchskommission nicht ausgeschlossen.
Es wird Wochen, vielleicht Monate bis zu einer Entscheidung im Berufungsverfahren dauern. „Es geht es nicht nur um Pell, sondern auch um die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit des Justizsystems“, sagt der australische Jesuit Michael Kelly. Der Chef des asiatischen katholischen Pressedienstes Ucanews sagt voraus: „Die Richter werden ihre Entscheidung noch sorgfältiger als sonst abwägen.“ Seinen 78. Geburtstag am Samstag wird Pell auf jeden Fall hinter Gittern begehen müssen.