Frage: Nach welchen Kriterien suchen Sie die Flüchtlinge aus?
Wenderlein: Wir kennen die Situation in den libanesischen Flüchtlingscamps sehr gut, weil wir dort seit Jahren humanitäre Hilfe leisten. Der Auswahlprozess ist extrem sorgfältig. Ganz bewusst empfehlen wir nur besonders verwundbare und benachteiligte Flüchtlingsfamilien, z. B. jene mit kranken oder behinderten Kindern oder mit alten, pflegebedürftigen Angehörigen. Mit diesen Familien gehen wir mehrfach ins Gespräch; nehmen all ihre Daten auf. Auf dieser Basis führen die italienischen Behörden einen Sicherheitscheck durch und stellen die Visa aus. Sant’Egidio, die Waldenser und die evangelische Kirche finanzieren und organisieren den Flug nach Rom und die Integrationsmaßnahmen in Italien. Dieses Modell ist auch wegen der engen Zusammenarbeit von kirchlicher Zivilgesellschaft und Staat sehr attraktiv.
Frage: Könnte dieses Projekt auch als Vorbild für andere europäische Länder dienen, z. B. für Deutschland?
Wenderlein: Auf jeden Fall. Die humanitären Korridore können auch deswegen von anderen europäischen Ländern realisiert werden, weil das bestehende EU-Recht eine juristische Grundlage dafür bietet. Für diesen Weg der legalen, sicheren Einreise müssen keine neuen nationalen Gesetze geschaffen werden. Jeder EU-Staat könnte sofort die humanitären Korridore auf Grund geltenden Rechts einrichten. Voraussetzung ist also der politische Wille, und hier sind oft noch dicke Bretter zu bohren.
Frage: Das nächste Weltfriedenstreffen von Sant’Egidio findet 2017 in Deutschland statt, wo mehr als ein Drittel der Bevölkerung konfessionslos sind. Welche Wirkung kann ein interreligiöses Friedenstreffen in diesem Zusammenhang haben?
Wenderlein: Die voranschreitende gesellschaftliche Spaltung, die Islamophobie, die Populisten – all das bestärkt uns umso mehr in unserem Anliegen der Weltfriedenstreffen. Das nächste Internationale Friedenstreffen wird vom 10. bis 12. September 2017 in Münster und Osnabrück stattfinden. Sant’Egidio und die beiden Bistümer laden gemeinsam dazu ein. Es ist keine akademisch theologische Veranstaltung, in der Dokumente unterzeichnet und Absichtserklärungen getroffen werden. Stattdessen nehmen die Weltfriedenstreffen auch jene in den Blick, die mit den Themen Kirche und Glauben wenig bis gar nichts anfangen können. Wir wollen das Bild einer offenen Kirche zeigen, die am Dialog der Religionen und Kulturen interessiert ist und auf die friedensstiftende Kraft der Religionen baut. Je mehr Kirchenfernstehende das mitbekommen, desto besser.
Frage: Sant’Egidio engagiert sich auch in der Aids-Bekämpfung. Welchen Ansatz verfolgen Sie mit Ihrem Anti-Aids-Programm DREAM in Afrika?
Wenderlein: Wir haben von Anfang an die Idee verfolgt, dass Prävention allein nicht die Lösung des Aids-Problems sein kann. Schließlich waren Ende der 90er Jahre schon viele Millionen Menschen in Afrika HIV-positiv. Es brauchte also eine vernünftige antiretrovirale Therapie. Mit diesem Vorschlag stießen wir zunächst auf viel Skepsis. Damals gab es – auch bei Entwicklungsexperten – die Grundhaltung, dass medikamentöse Aids-Therapie in Afrika aus verschiedenen Gründen nicht machbar sei: Die Kosten seien zu hoch, die Diagnostik zu kompliziert, die medizinischen Standards in Afrika zu niedrig. Wir probierten es trotzdem und errichteten Anfang der 2000er Jahre in Absprache mit dem mosambikanischen Gesundheitsministerium in einem Tuberkulose-Krankenhaus bei Maputo unsere erste HIV-Tagesklinik – mit Erfolg. Mittlerweile betreuen wir zusammen mit unseren staatlichen und kirchlichen Partnern ca. 80.000 HIV-Patienten in zehn afrikanischen Staaten.
Frage: Ein Ausblick zum Schluss: Was werden die drei wichtigsten Prioritäten von Sant’Egidio in den kommenden Jahren sein?
Wenderlein: Vor zwei Jahren hat Papst Franziskus unsere Gemeinschaft in Rom besucht. Auf Italienisch sagte er, uns zeichneten die drei P’s aus: Preghiera, Poveri, Pace – das Gebet, die Armen und der Frieden. Das sind und waren schon immer unsere drei Prioritäten.
Das Interview führte Lena Kretschmann.
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