Frauen und andere schwächere Mitglieder der Gesellschaft werden zunehmend Opfer von Aggressionen. Besonders an die Nieren gehen mir die Berichte darüber, dass häusliche Gewalt ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat. Wenn der Druck von außen durch Kriegshandlungen und Zerstörung so massiv wird, wenn Bedrohung und Unsicherheit ständig weiterbestehen und wenn Angehörige sterben, dann kann das auch die Familienverhältnisse zerrütten. Dazu kommt, dass die Männer ihre normalen Einkommensmöglichkeiten verloren haben und von der Situation völlig überfordert sind: manche radikalisieren sich, manche desertieren, andere werden gewalttätig. Die Verrohung im Umfeld setzt sich also in den Familien fort. Zusätzlich leben die Familien unter ganz veränderten Bedingungen zusammen, wenn beispielsweise ihre Häuser zerstört worden sind oder man bei Angehörigen Zuflucht finden muss.
Frage: Wie viele Menschen begeben sich nach wie vor auf die Flucht?
Meyer: Unverändert viele machen sich auf den Weg, aber Jordanien und der Libanon handhaben ihre Einwanderungspolitik mittlerweile sehr strikt. Nach fünf Jahren Krise und großer Solidarität gibt es mittlerweile kaum mehr legale Fluchtwege in die beiden Länder. Die syrischen Flüchtlinge geraten in sehr schwierige und bedrohliche Situationen, was wiederum ihre zurückgebliebenen Angehörigen stark belastet.
Frage: Mit welchen Problemen kämpfen die Helfer?
Meyer: Es ist ein ständiges Austarieren, sich sowohl mit den Regimeangehörigen wie mit den anderen Milizen gut zu stellen, wenn man Hilfslieferungen erwartet beispielsweise für das Al Rajaa Hospital. Für alle Projekte in Aleppo läuft der Geldtransfer über Beirut, das heißt, ein Franziskaner macht sich regelmäßig auf den Weg mit einem Koffer voll Geld. Er muss Geleitschutz in Anspruch nehmen und auch mal in irgendeiner Form Bakschisch bezahlen. Das ist so, sonst wäre Hilfe gar nicht möglich.
Frage: Mit wem arbeiten Sie vor Ort genau zusammen?
Meyer: Wir arbeiten mit Franziskanern, Maroniten und Jesuiten zusammen, die unsere Projekte vor Ort managen. Als ich die Gelegenheit hatte, mit ihnen zu sprechen, habe ich eine ganz authentische Haltung wahrgenommen, sich als Christ an die Seite der Benachteiligten zu stellen. Ein Jesuit, den ich aus Ägypten kenne, Abuna Magdi, ist ein besonders krisenerfahrener Mann. Er arbeitet jetzt in Homs. Für ihn ist das Wichtigste, sich an die Seite der Hilfebedürftigen zu stellen, egal welcher Religion sie angehören. Ich habe den Eindruck, dass die Zusammenarbeit zwischen Ordensleuten, Laien und Ehrenamtlichen sehr gut läuft.
Frage: Wie schätzen Sie die Chancen für einen Frieden in Syrien ein?
Meyer: Die Menschen sehen sich in einem Stellvertreterkrieg, aber die Mehrheit ist davon überzeugt, dass es keinen Frieden geben wird, solange Assad an der Macht ist. Dieser Diktator hat einfach über Jahrzehnte so viel Unrecht zu verantworten durch seine verschiedenen Geheimdienste. Die Mehrzahl aller Familien ist betroffen. Tausende, die sich nur im Geringsten gewehrt haben, sind verschwunden oder wurden so klein gemacht, dass sie danach den Mund gehalten haben. Ganz aktuell ist das natürlich noch extremer: Über die Verbrechen von Assad zu sprechen, ist sehr schwierig und gefährlich. Die Angst sitzt allen im Nacken. Meinem Eindruck nach gibt es keine Möglichkeit für Frieden unter Assad. Es muss ein international begleiteter Übergangsprozess mit einer Übergangsjustiz etabliert werden, der uns noch sehr lange beschäftigen wird.
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