Frage: Wie haben sie die Lage in Syrien wahrgenommen?
Müller: Im Land selbst fühlt man den Druck, unter dem die Menschen stehen und die gedämpfte Stimmung. Paradoxerweise erscheint es einerseits, als herrsche ein normales Leben, andererseits spürt man, dass eben nichts normal ist. Wenn man etwas an der Oberfläche kratzt, dann merkt man, dass vieles nur noch Schein ist. In einem Stadtviertel, wo vor dem Krieg viele Ärzte angesiedelt waren, hängen beispielweise immer noch die Praxis-Schilder an den Gebäuden. Sie erinnern an eine längst vergangene Normalität. Die Ärzte, die dort praktiziert haben, sind längst nicht mehr da. Stattdessen gibt es eine Militarisierung des Alltags, die erschreckend ist. An jeder Ecke sieht man Checkpoints und Rekrutierungsplakate der Armee, auf denen martialische Kämpfer, Männer wie Frauen, zu sehen sind.
Dort ist dann zu lesen: „Folgt uns, kämpft für Syrien.“ Es gibt mittlerweile so viele unterschiedliche Gruppen, die proklamieren, für unterschiedlichste Ideen und Ziele zu kämpfen. Demgegenüber steht eine große Ernüchterung in der Bevölkerung. Ein anderer Faktor, der im Moment zu einer Verschlechterung der Lage beiträgt, ist der kalte Winter. In den noch bewohnbaren Häusern leben ganze Flüchtlingsfamilien auf engstem Raum zusammen, manchmal nur in einem einzelnen Zimmer. Die andauernde Kälte und die sehr eingeschränkten Heizmöglichkeiten gepaart mit der täglich drohenden Gefahr durch Granateinschläge macht das Leben für die Menschen extrem schwierig.
Frage: Wie können die Caritas-Partner in Syrien unter solchen Umständen noch arbeiten?
Müller: Was die Caritas-Arbeit in Syrien angeht, muss man sicherlich nach den verschiedenen Landesteilen, in denen wir agieren, unterscheiden. Es gibt sechs Regionalstellen der Caritas in Damaskus, Hasakah, Homs, Aleppo, Latakia und Horan. Im Großraum Damaskus kann die Caritas unter den bereits beschriebenen Gefahren unbehelligt arbeiten und frei agieren. Lebensmittel und andere Bedarfsgüter sind sogar auf dem Markt verfügbar. Wir helfen den Menschen dort mit einem Versorgungssystem, das mit Coupons arbeitet. Es gibt Rahmenvereinbarungen mit ausgewählten Läden in der Stadt, in denen Familien mit Caritas-Gutscheinen die Gebrauchsgüter kaufen können, die sie zum täglichen Leben brauchen. Das System hat sich bewährt. Es ist sehr einfach und effektiv und spart zudem die Verwaltungs-, Anschaffungs-, Transport- und Lagerkosten.
Frage: Was konnten Sie während Ihres Besuches über die Situation in Aleppo erfahren, wo erst vor kurzem tausende Menschen vor neuen Bombardierungen durch die syrische Armee und das russische Militär geflohen sind?