Swjatoslaw Schewtschuk, Erzbischof von Kiew und Großerzbischof von Kiew-Halytsch der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, am 7. September 2023 im Vatikan.
Kiewer Großerzbischof über Realitäten des russischen Krieges

Schewtschuk: Zerstörungskraft moderner Waffen ist entsetzlich

München ‐ Der mit Rom verbundene Kiewer Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk (54) steht auf einer russischen Todesliste. Im Interview spricht er über die Dimension des russischen Totalitarismus, über Strafverfolgung – und die Szenarien eines Kriegsendes in der Ukraine

Erstellt: 30.05.2024
Aktualisiert: 04.06.2024
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Von Oliver Hinz (KNA)

Frage: Großerzbischof Schewtschuk, gab es einen russischen Befehl, Sie zu töten? Das Oberhaupt der autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine, Metropolit Epiphanius, stand nach eigenen Worten an fünfter Stelle einer russischen Todesliste, als Russland im Februar 2022 Kiew angriff.

Schewtschuk: Viele Diplomaten, die aus Kiew flohen, warnten mich, dass ich auf der Liste stehe. Ich habe diese Liste nie gesehen. Es ist eine Tatsache, dass Listen erstellt wurden mit Menschen, die hingerichtet werden sollen. Nach diesen vorbereiteten Listen verhafteten sie Menschen, folterten sie und töteten sie.

Und ich weiß, dass die russischen Fallschirmjäger, die Angriffsgruppen, die wirklich in das Gebiet meiner Kathedrale eingedrungen sind, nach mir suchten. Sie hatten einen exakten Plan von meinem Haus. Sie wussten sehr gut Bescheid, wo mein Fenster ist, die Eingangstür. Daher kann ich davon ausgehen, wenn die Russen die Stadt Kiew einnehmen würden, würden alle von uns, die die Identität und die Würde der ukrainischen Nation repräsentieren, nicht nur die religiösen Menschen, sondern auch die Künstler und die Intellektuellen, sofort hingerichtet, wie es zu Zeiten Stalins der Fall war.

Frage: Russland hat die ukrainische griechisch-katholische Kirche in den von Moskau annektierten Gebieten der Ukraine verboten. Was ist mit den Geistlichen und Gläubigen Ihrer Kirche dort geschehen?

Schewtschuk: Eine Wiederholung vieler historischer Ereignisse. Jedes Mal, wenn Russland das Gebiet der Ukraine eroberte, wurde unsere Kirche zerstört. Im Russischen Reich wurde unsere Kirche 1839 liquidiert. In der Sowjetunion wurde unsere Kirche 1946 liquidiert. Und heute, als Russland unser Gebiet besetzte, schlossen sie sofort unsere Kirchen und verbannten unsere Priester und Ordensfrauen oder sperrten sie ein.

In der Besatzungszone wurde nicht nur unsere Kirche für unzulässig erklärt, sondern auch Caritas, Kolumbusritter und alle humanitären Hilfsdienste der katholischen Kirche. Genauso erging es auch den ukrainischen orthodoxen und protestantischen Gemeinden. Als einzige Religionsgemeinschaft ist dort jetzt die russisch-orthodoxe Kirche erlaubt.

„Unser Kampf mit Russland ist ein Kampf zwischen David und Goliath“

—  Zitat: Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk(Kiew)

Frage: Wollen Sie, dass Deutschland der Ukraine Taurus-Marschflugkörper liefert?

Schewtschuk: Ich spreche nicht von bestimmten Waffen. Aber Tatsache ist, unser Kampf mit Russland ist ein Kampf zwischen David und Goliath. Wir sind kleiner als Russland. Wir sind schwächer als Russland. Und deshalb werden wir ohne die weltweite Unterstützung und Solidarität nicht standhalten.

Als Ukrainischer Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften haben wir bereits mehrmals die Welt aufgerufen, uns dabei zu helfen, unsere Städte vor den russischen Luftangriffen zu schützen und den Himmel über der Ukraine zu schließen. Denn wenn wir die Waffen einsetzen, um russische Raketen oder iranische Drohnen abzuschießen, wird niemand sterben. Deshalb können wir sagen, dass es moralisch gerechtfertigt ist, der Ukraine Waffen zu überlassen, damit die Ukrainer in der Lage sind, sich selbst gegen den russischen Aggressor zu verteidigen.

Frage: In einer langen Botschaft Ihrer Kirche zu Krieg und gerechten Frieden von Februar steht: „Auf den ersten Blick scheint Russlands moderne Tyrannei weniger brutal und totalitär zu sein als der kommunistische und nationalsozialistische Totalitarismus. In Wirklichkeit wandelt sie die totalitären Merkmale der Vergangenheit in viel heimtückischere und daher noch gefährlichere Formen um, die man als hybrid bezeichnen kann.“ Ist die moderne russische Tyrannei sogar gefährlicher als der NS-Totalitarismus?

Schewtschuk: Ich denke schon. Und wir erklären in dieser Botschaft, warum wir sie für gefährlicher halten. Lassen Sie mich mindestens drei Gründe dafür nennen: weil diese Tyrannei heute mit den neuen Instrumenten zur Kontrolle der Bürger die eigene Bevölkerung noch stärker unterdrückt. Der zweite Grund ist, dass die modernen Waffen effizienter töten als zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Zerstörungskraft moderner Waffen ist entsetzlich, und Hunderte ukrainische Städte wurden bereits zerstört.

Und drittens setzt diese Tyrannei sogenannte hybride Kriegsmittel ein. Dieser Krieg wird nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Wirtschaft, Desinformation und Propaganda geführt, die auch Sie hier in Deutschland direkt betreffen: durch die russische Propaganda, durch die Art, wie sie ihre geopolitischen Ambitionen darstellen und rechtfertigen. Russland spaltet heute die Welt und exportiert Krieg. Diese Tyrannei ist heute auf einer noch gefährlicheren Stufe als zur Zeit der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.

„Wenn eine christliche Kirche dazu ermutigt, andere Christen und unschuldige Menschen zu töten, dann müssen wir das verurteilen. Das sollte die gemeinsame Position aller christlichen Kirchen sein.“

—  Zitat: Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk(Kiew)

Frage: Sind Sie dafür, dass der orthodoxe Moskauer Patriarch Kyrill I. vor ein weltliches oder kirchliches Gericht gestellt wird, weil er den russischen Angriffskrieg unterstützt?

Schewtschuk: Ihn vor ein Gericht zu stellen, ist ein sehr spezifischer Akt internationaler Gerechtigkeit. Es liegt nicht in meiner Kompetenz, solch einen Akt zu unterstützen oder nicht zu unterstützen. Aber ich denke, dass diese Ideologie der „Russischen Welt“ und des heutigen Völkermordkrieges verurteilt werden sollte.

Ich habe das Gefühl, dass diese Instrumentalisierung der Religion, – dass Religion durch Russland sogar zur Waffe gemacht wird – die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft wesentlich kompromittiert. Denn wenn die christliche Kirche das Evangelium beiseite schiebt und stattdessen einen Krieg verherrlicht, könnte das jede christliche Botschaft in Frage stellen.

Die Ideologie der „Russischen Welt“ ist eine ökumenische Gefahr und Herausforderung. Wenn wir genau hinsehen, bedeutet diese Mutation der religiösen Botschaft der russisch-orthodoxen Kirche heute die gleiche Instrumentalisierung von Religion wie durch den „Islamischen Staat“; dort des Islam, hier des Christentums.

Die Religionsvertreter der Ideologie der „Russischen Welt“ versprechen eine Vergebung aller Sünden, wenn man in diesem selbst erklärten Heiligen Krieg stirbt. Sie rechtfertigen Anwendung von Gewalt, um ihren Standpunkt durchzusetzen, dass der angeblich korrupte Westen die Verkörperung des Antichristen sei. Sie erklären, dass sie die einzigen seien, die für den Kampf gegen den angeblich unmoralischen Westen und die heutige Zivilisation verantwortlich sind. Diese drei Punkte ähneln sehr dem Dschihadismus des „Islamischen Staates“.

Wenn eine christliche Kirche dazu ermutigt, andere Christen und unschuldige Menschen zu töten, dann müssen wir das verurteilen. Das sollte die gemeinsame Position aller christlichen Kirchen sein.

Frage: Wie soll der Krieg beendet werden?

Schewtschuk: Jeder weiß, dass er beendet werden sollte. Aber er kann nicht mit der Zerstörung der ukrainischen Nation und des ukrainischen Staates beendet werden. Denn Russlands Sieg wäre eine globale Katastrophe. Und er würde keinen gerechten und echten Frieden bringen. Ein Sieg Russlands als Ende dieses Krieges wäre der erste Schritt zu einer globalen Konfrontation in einer sehr nahen Zukunft.

Das zweite Szenario, dem die Ukrainer nicht zustimmen können, ist ein eingefrorener Konflikt. Denn ein eingefrorener Konflikt würde Russland eine weitere Chance geben, die eigene Armee weiter aufzurüsten und die nächste, noch zerstörerischere Aggression gegen die Ukraine zu starten.

Der Krieg sollte so enden, dass die Aggression aufhört und der Aggressor seine Meinung ändert. Russland muss die objektive Realität anerkennen, dass es eine ukrainische Nation mit eigener Sprache, Geschichte, Kirche, Staatlichkeit gibt. Bis jetzt ist die Ukraine für Russland kein Staat, sondern ein Territorium.

Mein Traum ist, dass wir nicht nur das besetzte Gebiet und die dort gefangenen Menschen befreien. Mein Traum ist, dass ukrainische Familien aus der ganzen Welt nach Hause zurückkehren und Sicherheit und Mut haben, um in ihrer eigenen Heimat neue Generationen von Ukrainern zur Welt zu bringen.

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