„Die Opposition hat keinen guten Job gemacht“
Istanbul ‐ Am Sonntag findet in der Türkei die Stichwahl um das Präsidentenamt statt, Amtsinhaber Erdogan gilt als Favorit. Für den renommierten Menschenrechtsanwalt Ok ist die Opposition dafür mit verantwortlich.
Aktualisiert: 22.05.2023
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Veysel Ok ist in Istanbul Anwalt für Medien- und Pressefreiheit. Er verteidigte mehr als 100 Journalisten, darunter Deniz Yücel, der 2017 in der Türkei verhaftet und am Freitag von der türkischen Justiz erneut mit einem Haftbefehl belegt wurde. Der Jurist gründete die Nichtregierungsorganisation Media and Law Studies Association, die sich gegen Einschüchterung, Gewalt, Überwachung und Zensur im Medienbereich einsetzt und systematisch Gerichtsprozesse gegen Journalisten beobachtet. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur, das kurz vor der Verkündung des Haftbefehls gegen seinen ehemaligen Mandanten Yücel entstand, blickt Ok auf die Präsidentenwahlen in seinem Land.
Frage: Herr Ok, wie geht es Ihnen nach der Wahl von Sonntag?
Ok: Ich bin müde, aber nicht schockiert, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP) vor seinem wichtigsten Herausforderer Kemal Kilicdaroglu (CHP) liegt. Ich hatte nicht viel Hoffnung, dass Kilicdaroglu gewinnen würde. Überrascht hat mich, dass oppositionelle Parteien wie die bürgerlich-kemalistische CHP und die pro-kurdische, linke YSP bei der Parlamentswahl so schlecht abgeschnitten haben. Dort zieht jetzt eine Mehrheit aus hardcore-rassistischen und radikalislamistischen Parteien ein. Bei der ultranationalistischen MHP hätte ich erwartet, dass sie fünf Prozent bekommt, nicht zehn. Auch dass eine Partei wie die Yeniden Refah Partisi fünf Sitze erobern konnte, wundert mich. Sie tut quasi nichts anderes, als zu Hass gegen LGBT-Menschen anzustacheln.
Frage: Ein Oppositioneller, mit dem ich am Wahlabend sprach, wiederholte mantraartig, man habe gewonnen; niemand solle den veröffentlichten Zahlen glauben. Was glauben Sie?
Ok: Es geht hier nicht um „glauben“. Den gesamten Wahlabend über hatten oppositionsnahe Medien berichtetet, Kilicdaroglu habe 49 Prozent und Erdogan nur 45 Prozent. Wo waren die Belege dafür? Nach einigen Stunden hat dann selbst die CHP eingesehen, dass sie verloren hat und es eine zweite Runde geben wird.
Frage: Der Hohe Wahlrat steht unter Einfluss des Präsidenten, und die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi behauptete anfangs, Erdogan habe 70 Prozent der Stimmen erhalten und Kilicdaroglu nur 30. Das klingt nicht seriöser.
Ok: Ja, am Anfang. Später sank Erdogans Prozentzahl dort. Im Laufe des Abends näherten sich die Zahlen von Anadolu und einer anderen Nachrichtenagentur namens Anka immer weiter an. Anka war bisher alles andere als erdogan-freundlich. Im Gegenteil, es heißt, ihr Besitzer sei Mitglied der CHP. [Anm. d. Red.: Inzwischen wurde der Agenturbesitzer Medienberichten zufolge aus der CHP ausgeschlossen.]
Frage: Inzwischen haben alle Seiten das Ergebnis akzeptiert. Heißt das denn, dass es stimmt?
Ok: Vielleicht stimmen die Manipulationsvorwürfe der Opposition aus der Wahlnacht. Nur belegt hat sie diese bislang nicht. Niemand hat Beweise auf den Tisch gelegt. Niemand. Natürlich ist Wahlbetrug möglich, gerade in kleineren Ortschaften. Dafür wurden plausible Einwände vorgetragen. Aber keine der Parteien hat bislang von einer umfassenden Wahlfälschung gesprochen. Erdogan hat 49,4 Prozent erhalten, Kilicdaroglu 44,96 Prozent. Und an diesem traurigen Gesamtbild ändern auch kleinere Fälschungen nichts.
Frage: Es ist schwierig, an verlässliche Informationen zu kommen. Niemand scheint zu wissen, was wirklich stimmt und was nicht.
Ok: Ja, es ist schlimm. Weder die Presseabteilungen der Opposition noch die Medien, die ihr nahe stehen, haben einen guten Job gemacht. Sie haben keine klaren Zahlen genannt; sie haben keine Verbindung zu den Menschen aufgebaut. Zum Beispiel der Fernsehsender Halk TV: Die saßen da zu viert mit ihren Smartphones im Studio und haben Beiträge von Twitter vorgelesen. Das ist doch kein Journalismus!
Frage: Eine CHP-Anhängerin ist angesichts des Ergebnisses in Tränen ausgebrochen. Sie hatte fest mit einem Erdrutschsieg Kilicdaroglus gerechnet. Wieso sind viele so überrascht?
Ok: Weil sie nichts anderes hören wollten! Zum Beispiel hatte Emin Capa, ein Journalist von Halk TV, am frühen Abend gewagt, die Prognose auszusprechen, dass es zu einer Stichwahl kommen könnte. Sie glauben gar nicht, wie das oppositionelle Lager über ihn hergefallen ist. „Wie kannst du das nur sagen!“ und vieles mehr warf man ihm an den Kopf. Oppositionelle Journalisten haben Angst vor ihrem eigenen Publikum! Die Berichterstattung in der Wahlnacht war auch deshalb so katastrophal, weil sich diese Medien nicht getraut haben zu sagen, dass Kilicdaroglu verloren hat. Die schon erwähnte Agentur Anka schickt nicht mal eigene Reporter los und übernimmt oft Inhalte der staatlichen Agentur Anadolu.
Frage: Wie hätte es besser laufen können?
Ok: Seit einem Jahr rede ich mir den Mund fusselig, dass die Opposition in der Türkei eine richtige Nachrichtenagentur gründen soll. Aber das hat sie nicht getan. Und das ist nicht Erdogans Schuld. Das ist die Schuld der Opposition. Das waren doch nicht unsere ersten Wahlen! Wir alle wissen doch, wie Anadolu Ajansi vorgeht und dass 90 Prozent aller Medien regierungsfreundlich berichten. Schauen Sie - in der Türkei gibt es nun wirklich genug arbeitslose Journalisten. Die könnten doch eine Nachrichtenagentur eröffnen. Wenigstens für einen Monat [lacht]!
Die CHP hat genug Geld. Sie stellt in elf Großstädten die Bürgermeister. Als zweitgrößte Partei im Land erhält sie sogar staatliche Förderung. Es wäre so einfach. Auch ein Fernsehsender ist nötig. Erdogan war auf 25 Sendern gleichzeitig live zu sehen. Als Kilicdaroglu sprach, zeigten das immer nur ein paar kleine Sender. Natürlich gibt es Medien, die gute Arbeit leisten wie Arti TV. Aber die sind alle viel zu klein! Aktuell haben die Menschen gar keine Chance, sich richtig zu informieren.
Frage: Als Anwalt unterstützen Sie seit Jahren Medienschaffende, die in der Türkei verfolgt werden. Sind Sie von Ihrer eigenen Klientel enttäuscht?
Ok: Auf jeden Fall. Wer hat diese Wahl wirklich verloren? Der Journalismus! Verloren haben auch die Nutzer der Sozialen Medien. Dort hieß es seit einem Jahr, Erdogan werde gehen [lacht]. Aber die Türkei ist mehr als Twitter. In Anatolien nutzt das kein Mensch [lacht]. Ich bin von allen Mainstream-Medien enttäuscht. In den vergangenen Wochen gab es mehr als 100 Verhaftungen in den kurdischen Gebieten - und wer hat darüber berichtet? Fast niemand. Auch international nicht.
Frage: Wie werden die Tage bis zur Stichwahl am 28. Mai ablaufen?
Ok: Es wird noch mehr Hass geschürt werden: gegen Kurden, gegen Syrer, gegen LGBT, gegen Frauen. Gegen alle entrechteten Gruppen im Land. Und damit verbunden: Verhaftungen, Angriffe, Gewalt auf der Straße.
Frage: Wer wird die zweite Runde gewinnen?
Ok: Ich bin mir nicht sicher – aber Erdogan ist stark. Er hat jetzt schon 49,4 Prozent bekommen, und seine AKP ist mit mehr als 35 Prozent die stärkste Kraft im Parlament. Er wird den Menschen jetzt sagen: Wenn ihr jemand anderen als mich zum Präsidenten wählt, gibt es eine Krise. Wenn ihr mich wählt, gibt es Stabilität. Das ist gute PR. Aber in der Türkei ist alles möglich. Alles kann sich von jetzt auf gleich ändern. Ich bin immer optimistisch.
Frage: Was gibt Ihnen noch Hoffnung?
Ok: Es ist ein Fehler, immer nur gegen etwas zu kämpfen. Das einzige Thema, das die Opposition eint, ist ihr Anti-Erdoganismus. Aber das reicht nicht. Das hat diese Wahl gezeigt. Selbst wenn Erdogan auch die zweite Runde gewinnt, wird es nicht mehr so leicht für ihn sein, die Türkei zu regieren; wegen der Wirtschaftskrise, der kurdischen Frage usw.
Die Menschen in der Türkei wollen Lösungen, und sie wollen Frieden. Das ist, was die Parteien anbieten müssen. Aber das haben sie nicht. Auch bei der Opposition gibt es Rassismus. Ich bin in den 90er Jahren in Diyarbakir aufgewachsen [Stadt im kurdischen Südosten, Anm. d. Red.]. Meine Kindheit war geprägt von der Hisbullah [gewalttätige islamistische Organisation, Anm. d. Red.] und einer Polizei, die Leute auf der Straße angegriffen und getötet hat. Wir haben die 90er Jahre in Kurdistan überstanden, also werden wir auch diese Zeit jetzt überstehen.
KNA