Papst Franziskus sitzt an einem Tisch und liest einen Brief
„Euer Schmerz ist mein Schmerz“

Papst schreibt emotionalen Brief an ukrainische Bevölkerung

Vatikanstadt ‐ In einem Brief an die Menschen in der Ukraine bringt Papst Franziskus seine Trauer und Mitgefühl zum Ausdruck – und erinnert an die Hungerkatastrophe, der vor rund 90 Jahren Millionen von Menschen zum Opfer fielen.

Erstellt: 26.11.2022
Aktualisiert: 28.11.2022
Lesedauer: 

In einem emotionalen Brief hat sich Papst Franziskus an die Bevölkerung in der Ukraine gewandt. Neun Monate nach Beginn der russischen Invasion versicherte der Papst die Ukrainer seiner Nähe. „Euer Schmerz ist mein Schmerz“, betonte er in dem auf Donnerstag datierten und am Freitag vom Vatikan veröffentlichten Schreiben. Er wolle seine Tränen mit ihren verbinden, ihnen sagen, „dass es keinen Tag gibt, an dem ich euch nicht nahe bin und euch nicht in meinem Herzen und in meinem Gebet trage“.

In dem auch auf Ukrainisch verfassten Brief schreibt Franziskus in klaren, bildhaften Worten über die Situation in der Ukraine. Er spricht von dem „absurden Wahnsinn des Krieges“, von „Terror“ und „Aggression“. „In eurem Himmel hallen das unheimliche Dröhnen von Explosionen und der bedrohliche Klang von Sirenen unaufhörlich wider. Eure Städte werden von Bomben getroffen, Raketenschauer verursachen Tod, Zerstörung und Schmerz, Hunger, Durst und Kälte.“

Spuren von Folter an Leichen und den „Massengräbern, die in verschiedenen Städten entdeckt wurden“, ließen nach dem „Warum“ schreien. Franziskus erinnerte an die vielen unterschiedlichen Betroffenen des Krieges. Etwa die Kinder, „die getötet, verletzt oder zu Waisen gemacht“ wurden und den damit verbundenen „unermesslichen Schmerz“ der Mütter.

Weiter sprach Franziskus seine „Zuneigung und Bewunderung“ etwa den jungen Menschen aus, die ihr Vaterland mutig verteidigten, ebenso Frauen, die ihre Männer verloren, oder jenen, die Gewalt erlitten haben. Er denke an die älteren Menschen, genauso wie an die Freiwilligen und Seelsorger, die sich „jeden Tag für die Menschen einsetzen“ sowie an die vielen Geflüchteten.

Der Papstbrief im Wortlaut

„Liebe ukrainische Brüder und Schwestern!

Seit neun Monaten ist in eurem Land der absurde Wahnsinn des Krieges entfesselt worden. In eurem Himmel hallen das unheimliche Dröhnen von Explosionen und der bedrohliche Klang von Sirenen unaufhörlich wider. Eure Städte werden von Bomben getroffen, Raketenschauer verursachen Tod, Zerstörung und Schmerz, Hunger, Durst und Kälte. Auf euren Straßen mussten so viele Menschen fliehen und ihr Zuhause und ihre Lieben zurücklassen. Entlang eurer großen Flüsse fließen jeden Tag Flüsse aus Blut und Tränen.

Ich möchte meine Tränen mit euren verbinden und euch sagen, dass es keinen Tag gibt, an dem ich euch nicht nahe bin und euch nicht in meinem Herzen und in meinem Gebet trage. Euer Schmerz ist mein Schmerz. Im Kreuz Jesu sehe ich heute euch, die ihr unter dem Terror leidet, den diese Aggression verursacht. Ja, das Kreuz, das den Herrn gequält hat, lebt wieder in den Spuren von Folter, die an den Leichen gefunden wurden, in den Massengräbern, die in verschiedenen Städten entdeckt wurden, in diesen und vielen anderen blutigen Bildern, die in unsere Seelen eingedrungen sind, die uns schreien lassen: Warum? Wie können Menschen andere Menschen auf diese Weise behandeln?

Viele tragische Geschichten kommen mir wieder in den Sinn. Vor allem die der Kleinen: Wie viele Kinder wurden getötet, verletzt oder zu Waisen gemacht, ihren Müttern entrissen! Ich weine mit euch um jedes kleine Kind, das durch diesen Krieg sein Leben verloren hat, wie Kira in Odessa, wie Lisa in Winnyzja und wie Hunderte anderer Kinder: In jedem von ihnen hat die gesamte Menschheit eine Niederlage erlitten. Jetzt, da sie in Gottes Schoß sind, sehen sie eure Qualen und beten, dass sie ein Ende haben. Und wie könnten wir nicht mit ihnen und mit den kleinen und großen Deportierten mitfühlen? Der Schmerz der ukrainischen Mütter ist unermesslich.

Dann denke ich an euch, junge Menschen, die ihr zur mutigen Verteidigung eures Vaterlandes die Waffen ergreifen musstet, statt jene Träume zu verwirklichen, die ihr für die Zukunft hattet. Ich denke an euch, die Ehefrauen, die ihre Männer verloren haben und sich auf die Lippen beißen, um in aller Stille, mit Würde und Entschlossenheit, jedes Opfer für ihre Kinder zu bringen; an euch, die Erwachsenen, die mit allen Mitteln versuchen, ihre Lieben zu schützen; an euch, die älteren Menschen, die anstelle eines ungetrübten Sonnenuntergangs in die dunkle Nacht des Krieges gestürzt wurden; an euch, die Frauen, die Gewalt erlitten haben und große Lasten in ihren Herzen tragen; an euch alle, die an Seele und Körper verwundet sind. Ich denke an euch und stehe euch mit Zuneigung und Bewunderung dafür zur Seite, wie ihr solch schwere Prüfungen meistert.

Und ich denke an euch, die Freiwilligen, die sich jeden Tag für die Menschen einsetzen; an euch, die Seelsorger des heiligen Volkes Gottes, die – oft unter großer Gefahr für die eigene Sicherheit – in der Nähe der Menschen geblieben sind, indem sie den Trost Gottes und die Solidarität ihrer Brüder und Schwestern gebracht haben, indem sie auf kreative Weise Gemeindehäuser und Klöster in Notunterkünfte umgewandelt haben, wo sie denen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, Gastfreundschaft, Hilfe und Nahrung anbieten.

Ich denke auch an die Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, die sich weit weg von ihren Häusern befinden, von denen viele zerstört sind; und an die Behörden, für die ich bete: Auf ihnen ruht die Pflicht, das Land in tragischen Zeiten zu regieren und weitsichtige Entscheidungen für den Frieden und die Entwicklung der Wirtschaft zu treffen, während so viele lebenswichtige Infrastrukturen in der Stadt und auf dem Land zerstört worden sind.

Liebe Brüder und Schwestern, in diesem Meer des Bösen und des Schmerzes - 90 Jahre nach dem schrecklichen Völkermord des Holodomor - bewundere ich euren guten Eifer. Trotz der entsetzlichen Tragödie, die es erleidet, hat sich das ukrainische Volk nie entmutigen lassen oder ist in Mitleid versunken. Die Welt hat ein mutiges und starkes Volk erkannt; ein Volk, das leidet und betet, weint und kämpft, Widerstand leistet und hofft: ein edles und gemartertes Volk. Ich bleibe euch weiter nahe, mit dem Herzen und dem Gebet, mit humanitärer Fürsorge; damit ihr euch begleitet fühlt, damit man sich nicht an den Krieg gewöhnt, damit ihr heute und vor allem morgen nicht allein gelassen werdet, wenn die Versuchung kommen könnte, euer Leid zu vergessen.

In diesen Monaten, in denen das raue Klima das, was ihr erlebt, noch tragischer macht, möchte ich, dass die Zuneigung der Kirche, die Kraft des Gebetes, das Gute, das so viele Brüder und Schwestern auf allen Breitengraden für euch empfinden, wie Liebkosungen auf eurem Antlitz sind. In wenigen Wochen ist Weihnachten, und der Stachel des Leids wird noch stärker zu spüren sein. Aber ich möchte mit euch nach Bethlehem zurückkehren; zu der Prüfung, der sich die Heilige Familie in jener Nacht stellen musste, die nur kalt und dunkel erschien. Stattdessen kam das Licht: nicht von Menschen, sondern von Gott; nicht von der Erde, sondern vom Himmel.

Möge seine und unsere Mutter, die Gottesmutter, über euch wachen. Ihrem Unbefleckten Herzen weihe ich in Verbindung mit den Bischöfen der Welt die Kirche und die Menschheit, insbesondere euer Land und Russland. Ihrem mütterlichen Herzen bringe ich euer Leid und eure Tränen dar. An sie, die, wie ein großer Sohn eures Landes schrieb, ‚Gott in unsere Welt gebracht hat', wollen wir nicht müde werden, um das ersehnte Geschenk des Friedens zu bitten, in der Gewissheit, dass 'für Gott nichts unmöglich ist' (Lk 1,37). Möge er die gerechten Erwartungen eurer Herzen erfüllen, eure Wunden heilen und euch seinen Trost spenden. Ich bin bei euch, ich bete für euch und bitte euch, für mich zu beten.

Möge der Herr euch segnen und die Gottesmutter euch beschützen.

Rom, Sankt Johannes im Lateran, 24. November 2022

Franziskus“

Die Ukrainer hätten sich „trotz der unermesslichen Tragödie“ nie entmutigen lassen oder seien in Mitleid versunken, lobte der Papst. „Die Welt hat ein mutiges und starkes Volk erkannt, ein Volk, das leidet und betet, weint und kämpft, Widerstand leistet und hofft: ein edles und gemartertes Volk“, erklärte er weiter.

„Ich bleibe euch nahe, mit meinem Herzen und meinem Gebet, mit meiner humanitären Sorge, damit ihr euch begleitet fühlt, damit ihr euch nicht an den Krieg gewöhnt, damit ihr heute und vor allem morgen nicht allein gelassen werdet, wenn die Versuchung kommen könnte, euer Leiden zu vergessen“, so der Papst.

Wie bereits in der Generalaudienz am Mittwoch erinnerte er in dem Brief an die Hungerkatastrophe „Holodomor“ („Hungermord“) vor 90 Jahren. Damals fielen in der Ukraine bis zu acht Millionen Menschen einer von den Sowjets absichtlich herbeigeführten Hungerkatastrophe zum Opfer. Franziskus bezeichnete dies in dem Brief erneut als „schrecklichen Völkermord“.

KNA