In Nigeria sind Religion und Politik eng verflochten
Abuja ‐ In Nigeria könnte die Politik künftig von Muslimen dominiert werden, fürchten die Kirchen. Die Spitzenkandidaten beider Parteien gehören dem Islam an. Dabei bilden Anhänger der Pfingstkirchen ein großes Wählerpotenzial.
Aktualisiert: 27.09.2022
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Offiziell hat der Wahlkampf noch nicht begonnen. Doch in Nigeria mit seinen 220 Millionen Einwohnern gibt es kein anderes Thema mehr: Im Februar und März 2023 werden ein neuer Präsident, Gouverneure und Abgeordnete gewählt. Amtsinhaber Muhammadu Buhari (79) darf nach zwei Perioden nicht mehr antreten. Spitzenkandidat des All Progressives Congress (APC) wird der einstige Gouverneur von Lagos, Bola Tinubu (70). Er gilt als Pate von Lagos und als jemand, der seit der Rückkehr zum Mehrparteiensystem im Jahr 1999 ein Tabu gebrochen hat: Sein running mate – in Nigeria treten die Kandidaten wie in den USA im Team an – ist mit Kashim Shettima, dem ehemaligen Gouverneur aus Borno im Nordosten, ebenfalls ein Muslim.
Bisher galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass die großen Parteien landesweit Kandidaten-Paare aus einem Christen und einem Muslim bilden. Auch hieß es bisher: Einem Muslim, der acht Jahre an der Staatsspitze stand, muss ein Christ folgen – und umgekehrt. Religion ist in Nigeria ein sensibles Thema: Beide Glaubensgruppen debattieren, wer zahlenmäßig überlegen ist. Wer an der Macht ist, hat Zugang zu Ämtern und Ressourcen und verteilt diese – so wird angenommen – an jene, die der gleichen Religion oder Ethnie angehören.
Nigeria gilt als gespaltener Staat ohne Einheitsgefühl. Matthew Hassan Kukah, katholischer Bischof von Sokoto, bezeichnete in einem Interview des Senders „Channels TV“ die Entscheidung Tinubus deshalb als einen Rückschritt für die Integration. Christen im muslimisch geprägten Norden lehnten sie ebenfalls ab. Kritik gibt es auch deshalb, weil der Spitzenkandidat der größten Oppositionspartei, der People's Democratic Party (PDP), mit Atiku Abubakar ebenfalls ein Muslim ist. Er war von 1999 bis 2007 Vizepräsident und hatte 2019 gegen Buhari verloren.
Kirchenvertreter gehen allerdings auch selbst in die Politik. Mit Hyacinth Iormem Alia ist im Bundesstaat Benue in Zentralnigeria ein katholischer Priester Spitzenkandidat des APC. Der 56-Jährige hat in Nigeria und den USA Theologie und Religionspädagogik studiert und promoviert. Anschließend arbeitete er in beiden Ländern als Priester. Als seine politischen Ambitionen bekannt wurden, suspendierte ihn Ende Mai der Bischof der Diözese Gboko, William Amove Avenya. Die Mutterkirche erlaube es ihren Geistlichen nicht, „sich auf eigene Faust in die Parteipolitik einzumischen“, heißt es in einem Schreiben.
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Neu ist das Phänomen nicht. Bisher waren es allerdings meist Pastoren von Pfingst- und Freikirchen, die anderen Hauptberufen nachgehen. Derzeit bekanntestes Beispiel ist Vizepräsident Yemi Osinbajo, ein Rechtswissenschaftler und Pastor in der Redeemed Christian Church of God, einer der größten Pfingstkirchen des Landes. Bis zur Wahl 2015 war er Pfarrer der Gemeinde Olive Tree Parish, die auf der künstlich aufgeschütteten Insel Banana Island in Lagos liegt und Wohnort einer wohlhabenden Oberschicht ist. Er galt lange als Buharis Nachfolger, konnte sich aber nicht gegen Tinubu durchsetzen.
Buhari hatte stets nach Stellvertretern gesucht, die ein eindeutiges christliches Profil haben. 2011 – er verlor die Wahl gegen den damaligen Amtsinhaber Goodluck Jonathan (PDP) – war es der Pastor Tunde Bakare. Auch außerhalb der beiden großen Parteien suchen Prediger und Pastoren ihren Weg in die Politik. TV-Prediger Chris Okotie war bereits viermal Präsidentschaftskandidat.
Pfingstkirchen verzeichnen in Nigeria seit der Unabhängigkeit 1960 wachsende Mitgliederzahlen. Während des Ölbooms in den 1970er Jahren boten sie, so die Harvard Divinity School, der Fachbereich Theologie der US-amerikanischen Harvard University in Boston, jenen Unterstützung, die nicht davon profitierten, und verurteilten die Entwicklung. Das wandelte sich kurze Zeit später: Längst verbreiten sie – es gibt keine verlässlichen Statistiken über ihre genau Zahl – ein Wohlstandsevangelium. Mitglieder betonen in Gottesdiensten und Flyern, dass sie durch den Kirchenbesuch zu Geld gekommen sind, einen Job gefunden haben oder ein Auto kaufen konnten. Vor allem in Großstädten werben die Kirchen konkret wohlhabende Menschen aus der Mittel- und Oberschicht an. So entstehen Netzwerke, die für die Politik interessant sind.
In Nigeria werden immer öfter Priester und Ordensfrauen entführt
Abuja ‐ Mit Entführungen werden in Nigeria jährlich viele Millionen Euro erpresst. Zunehmend betroffen sind Priester und Ordensfrauen. Besonders in ländlichen Regionen sind sie gefährdet.
Vier Ordensfrauen aus Nigeria hatten großes Glück. Die Frauen, die der Kongregation Schwestern von Jesus dem Erlöser angehören, wurden Ende August im Bundesstaat Imo entführt, zwei Tage später aber wieder freigelassen. Längst nicht jede Entführung geht so glimpflich aus. Ende Juli ermordeten Bewaffnete einen verschleppten Priester. Schätzungen zufolge sollen allein in diesem Jahr mindestens vier katholische Geistliche bei Entführungen getötet worden sein. In der ersten Jahreshälfte wurden insgesamt 18 entführt, schreibt die Zeitung „The Punch“.
Die Sicherheitsfirma SBM Intelligence mit Sitz in der Hafenmetropole Lagos gibt an, dass von Juli 2021 bis Juni 2022 insgesamt 3.420 Menschen im ganzen Land verschleppt wurden. 564 kamen bei Entführungen ums Leben. Das Unternehmen konnte Lösegeldzahlungen in Höhe von umgerechnet knapp vier Millionen Euro verifizieren. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.
Besonders betroffen ist der Bundesstaat Kaduna. Dort gilt vor allem der Süden seit Jahren als unsicher. Es kommt zu Massakern, Konflikten der verschiedenen ethnischen Gruppen und Verschleppungen. Priester und Pastore geraten zunehmend in den Fokus. „18 Baptistenkirchen mussten wir bereits schließen“, bedauert John Joseph Hayab, Vorsitzender der Christlichen Vereinigung Nigerias (CAN) im Bundesstaat Kaduna. „Pfarrer sind nicht mehr bereit, dauerhaft in ländlichen Regionen zu arbeiten. Auch ich habe Angst und kann meine Aufgaben nicht mehr so wahrnehmen wie früher. Ich muss meine Reisen einschränken.“
Hayab wird sofort informiert, wenn in Kaduna wieder ein Pastor in die Hände von Kidnappern gerät. Längst nicht alle Entführungen schaffen es überhaupt in die Medien. Für Hayab ist klar: „Es ist das Ergebnis der schlechten Regierungsführung, die schon vor vielen Jahren begonnen hat.“ Vereinzelt gebe es zwar Erfolge der Regierung, so Hayab. Die Straße zwischen Kaduna und der Hauptstadt Abuja, die in den vergangenen Jahren zum Zentrum von Entführungen geworden ist, sei heute wieder sicherer. „Die Entführungswelle ist aber keinesfalls vorbei.“
Die schlechte wirtschaftliche Lage ist aus Sicht von Ordensfrau Rosemary Ukata Ursache für die Verschleppungen. Sie ist aus der Hauptstadt Abuja, die noch als einigermaßen sicher gilt, in den Bundesstaat Abia gezogen. In Zusammenarbeit mit Frauen baut sie im Dorf einen Bauernhof auf, um Bewohnern Versorgung und Einkommen zu sichern. „Wir müssen Alternativen bieten“, sagt sie. Schutz durch Polizei oder Militär gibt es gerade in entlegenen Regionen nicht. „Plötzlich kann jemand mit einer Kalaschnikow vor dir stehen und innerhalb von Stunden viele Millionen Naira erbeuten.“ Deshalb sei es wichtig, die Umgebung genau zu beobachten: „Wenn zum Beispiel der Verkehr auf einer Straße ins Stocken gerät, bedeutet das oft: Bewaffnete haben eine Straßensperre errichtet, und nichts bewegt sich mehr.“ Für sie ist allerdings klar: Egal, wie groß das Risiko ist, sie wird weiter in ländlichen Regionen arbeiten. „Ich lasse mich nicht einschüchtern.“
Dass aktuell mehr Priester und Pastore verschleppt werden, liege mitunter auch an deren Lebensstil. In Nigeria sind einige Kirchengründer zu Multimillionären geworden. Sie besitzen riesige Villen im In- und Ausland, Luxusautos und Privatjets. „So entsteht ein falsches Bild. Schon wenn ich in einem Auto zu einer Veranstaltung fahre, kann das falsch interpretiert werden: Wenn jemand in einem PKW unterwegs ist, dann ist dort Geld zu holen.“
Bisher von Entführungen verschont geblieben ist Makurdi, Hauptstadt des Bundesstaates Benue in Zentralnigeria. „In der Stadt sind wir sicherer als auf dem Land“, sagt Priester Remigius Ihyula, der das Caritas-Komitee für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC) der Diözese Benue leitet. „Wir erleben, dass Priester nicht mehr in Gemeinden in Dörfern leben können. Sie fahren beispielsweise nur noch für Beerdigungen dorthin.“
Allerdings leiden nicht nur Geistliche, sondern alle, betont Ihyula: „Menschen können ihre Felder nicht mehr bestellen und nichts mehr ernten. Immer mehr kommen zu uns und bitten um Nahrung.“ Die Krise sei ernst, sagt der Priester. „Ich bin 48 Jahre alt. Eine Situation wie die aktuelle habe ich in Nigeria noch nie erlebt.“