Kultur und Religion der Andenvölker
Indigene Völker

Kultur und Religion der Andenvölker

Im Inkareich in Südamerika produzierten vor 500 Jahren Millionen Menschen Nahrungsmittelüberschüsse. Aus Vorratsspeichern hatte die gesamte Bevölkerung selbst in Notzeiten ausreichend Nahrung. Witwen und Waisen, alte und kranke Menschen wurden mitversorgt und waren nie allein. Jeder hatte, was er zum Leben brauchte. Hochentwickelte Bewässerungssysteme und Terrassenanlagen bildeten die Grundlage einer blühenden Landwirtschaft.

Erstellt: 07.09.2013
Aktualisiert: 07.09.2022
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Auf dem fruchtbaren Land wurde das angebaut, was man zum Essen brauchte (Kartoffel, Mais, Quinoa). Staat und Gesellschaft waren auf die Befriedigung der fundamentalen menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet. An Aussaat und Ernte war die gesamte Indigenengemeinschaft beteiligt. In rituellen Festen wurde die Fruchtbarkeit von Mutter Erde beschworen. Es gab keinen Privatbesitz. Es war völlig unbekannt, dass man Erde und Tiere, Wasser und Luft kaufen kann. Kann man denn seine Mutter verkaufen, die Mutter, die den Menschen hervorbringt und in die der Mensch zurückkehrt?

Die Europäer brachten den Untergang. Sie brachten auch eine neue Religion: den Glauben an das Gold und an die Käuflichkeit aller Dinge. Für die Indigenen war der Gott der Weißen ein blutrünstiger Tyrann. Und viele Indigene glauben auch heute noch, dass man diesen Gott nur durch viele Opfer und Gebete besänftigen kann.

Von den 14 Millionen Indigenen im ehemaligen Reich der Inkas lebten nach 150 Jahren Kontakt mit der christlich-abendländischen Zivilisation noch etwa 2 Millionen. Europa erlebte in der gleichen Zeit einen ungeheuerlichen Aufstieg. Der Reichtum und die Entwicklung Europas in der Neuzeit haben mit ihren Ursprung in den Gräbern der Indigenen (und Afrikanern, Asiaten). Die „Ureinwohner“ leben in ihrem eigenen Land wie Fremde, ja Aussätzige. Man hat ihnen alles genommen: ihr Land, ihre Religion, ihre Kultur, ihre Geschichte, ihren Glauben an sich selbst.

Voraussetzung einer befreienden Pastoral ist die Wiederentdeckung der eigenen Würde, also der eigenen Kultur und Geschichte. Aufgabe der Kirche ist es, dieses Wiederentdecken der eigenen Identität mit allen Kräften zu fördern. Sie erfährt dabei selbst auch eine Bereicherung und Vertiefung ihres Glaubens – etwa eine neue Sicht auf Natur und Gottes Schöpfung, auf Werte wie Gemeinschaft und Solidarität und die Rolle des Menschen in der Gemeinschaft. Zu beachten ist freilich, dass auch der Inkastaat kein Paradies war und nicht alle Europäer gewissenlose Eroberer waren.

Bild: © Tempelmann

In zwei Beispielen kann exemplarisch gezeigt werden, wie das Evangelium aus der Perspektive der sogenannten andinen Kosmovision, also der Kultur und Religion der Andenvölker, neu entdeckt werden kann:

1. Beispiel

Erstens: In einer befreienden Pastoral, wie sie seit 1962 in einigen Regionen der Anden entstanden ist, wird die „Minga“, also die gemeinschaftliche Arbeit und der Einsatz für die Gemeinschaft, als Mittel der Evangelisierung vorgestellt. Zuerst wird an die Kultur vor der Zeit der Eroberung erinnert. Die typische Arbeitsweise aus jener Zeit, die „Minga“, wird auch heute noch praktiziert. Das gemeinschaftliche Arbeiten, Säen und Ernten ist Grundlage des Zusammenlebens. Der Boden gehörte allen. Die Menschen lebten als Mitglieder eines „Ayllu“, also einer Gemeinschaft zusammen. Die Landwirtschaft und die kunstvollen Bewässerungsanlagen wurden gemeinsam betrieben. Das Wasser wurde entsprechend den Bedürfnissen verteilt, denn auch das Wasser gehörte allen. Alle Produkte der Mutter Erde sind für alle bestimmt. Auch alltägliche Arbeiten wie gemeinsamer Brücken- und Hausbau wurden in Gemeinschaftsarbeit geleistet und gemeistert.

Die „Minga“ wird heute als ein Weg verstanden, den Individualismus überwinden zu können, und sie ist eine Perspektive für die Zukunft. Eigene Werte und Kräfte können entdeckt und selbstbewusst vertreten werden. Die „Minga“ kann auch als Katechese verstanden werden, als ein Weg, die Werte des Evangeliums zu vertiefen. Und auch umgekehrt gilt: Werte des Evangeliums können im Lichte der eigenen Erfahrungen als Bereicherung für das eigene Leben und die Kultur entdeckt werden, was zu einer gegenseitigen Bereicherung der Erfahrungen, zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und zu einer besseren Praxis führt.

Die Entdeckung der Werte der eigenen Kultur ist für das Selbstbewusstsein der heute lebenden indigenen Landarbeiter, also der „Campesinos“, von großer Bedeutung. Entscheidend ist, dass in diesen wiederentdeckten Werten viele grundlegende Werte des Evangeliums enthalten sind: Solidarität, praktische und gegenseitige Hilfe, Leben in Gemeinschaft, Dienst an der Gemeinschaft. Die gemeinschaftliche Arbeit wurde als ein Fest verstanden. Denn genauso wichtig wie die Arbeit war das gemeinsame Essen, die Musik und der Tanz. Daran lässt sich heute leicht anknüpfen. Die gewonnene Einsicht, dass ihre Vorfahren eine Kultur und Lebensweise hatten, die in vielen Aspekten denen der Eroberer überlegen war, ist deshalb für das Selbstverständnis der Campesinos sehr wichtig.

Zweites Beispiel: Interpretation des Schöpfungsberichts:

Die bisher verstandene Bedeutung – als Auftrag zur Beherrschung der Natur – führt zur Zerstörung, denn sie hat die ursprüngliche Aussage völlig falsch verstanden. Sie wurde vom griechisch-europäischen Denkmodell her verstanden und entsprechend übersetzt und gedeutet. Das europäische Denkmodell (Kosmovision) übersetzt etwa das hebräische Schlüsselwort „kabash“ („den Fuß draufsetzen“) entsprechend der eigenen Denkweise und Praxis mit „erobern und unterjochen“. Diese Deutung hat sich im 4. Jh. durchgesetzt und wurde später durch die Kolonialisierung globalisiert. Im hebräischen Denken – und damit in korrekter Übersetzung – bedeutet „kabash“ zum „Bereich Gottes gehörend“, allgemeiner: Die Schöpfung Gottes gehört nicht uns, den Menschen. Wir können nicht über sie verfügen, sie ist uns bestenfalls nur geliehen. Und das bedeutet im biblischen Denken: Wir müssen sie im Sinne des Eigentümers (Gott) gestalten: Im Dienste des Mitmenschen, besonders der Ausgegrenzten, in Beziehung mit den anderen Geschöpfen. Die Güter der Erde sind für alle Menschen bestimmt und der Zugang zu den Gütern der Erde (Wasser, Land, Früchte...) muss allen Menschen offen stehen, denn sie dienen dazu, dass alle Menschen in Würde leben können, als Kinder Gottes, als sein Ebenbild. Das schließt natürlich das Leben zukünftiger Generationen mit ein.

Eine vorderasiatische Kultur wurde demnach in die europäische Denkweise übersetzt und in ihr Gegenteil verkehrt. In der griech.-röm. Denkweise ist der Mensch der absolute Herrscher über die Natur, er darf sie rücksichtslos ausbeuten. Und wem dies am besten gelingt, der wird zum „Herrscher der Welt“.

Fazit: Solidarität als christliches Wesensmerkmal

Nach der Anden-Kultur findet der Mensch seine Begründung nicht aus sich selbst heraus, sondern in der Beziehung zur Gemeinschaft der Menschen untereinander und mit dem gesamten Kosmos (Gott). Ein Mensch ohne Beziehung ist tot. Wer sich aus dieser Einheit ausklinkt, schadet der Gemeinschaft und setzt gar deren Überleben aufs Spiel. Weil jeder lebendiger Bestandteil eines kreativen Netzwerkes ist, kann auch jeder etwas beitragen und einbringen. Es gibt keine Insolvenz. Unter einem Totalausfall (z.B. Hungerstod) würde die gesamte Gemeinschaft, ja der ganze Kosmos leiden. Deswegen war es undenkbar, ein Mitglied der Gemeinschaft dem Elend oder gar Hungerstod zu überlassen. Ist dies nicht das, was – unter Umgehung der europäischen Ideengeschichte – die Bibel uns sagen will?

In dieser Weltsicht spielt das Individuum nicht die herausragende Rolle, so wie wir dies in der europäischen Denkweise verstehen. Diese Diskussion kann aber an dieser Stelle nicht geführt werden. Stattdessen ein Zitat von Bischof Oscar Romero: „Eine der wichtigsten Botschaften der Kirche heute ist, dass die Christen ihre vom Individualismus geprägte Mentalität aufgeben sollten. Wir sollten nicht mehr von „meiner“ Erlösung und „meinem“ Gott sprechen, sondern davon, wie Gott will, dass wir leben: Als sein Volk, als pilgerndes Volk, so wie Israel aus dem Auszug aus der Sklaverei, durch die Wüste in das Gelobte Land.“ (Predigt am 19.11.1978).

Das Sprechen von „Solidarität“ galt lange Zeit, vor allem nach dem „finalen Sieg des Kapitalismus“ seit 1990, als überholt und aus der Zeit gefallen. Doch Solidarität – und nicht nur das Sprechen davon – ist heute nicht nur dringlicher denn je. Es ist die zentrale Botschaft unseres Glaubens: der Worte und Taten Jesu Christi. Sie ist gelebte und praktizierte Gottes- und Nächstenliebe. Jesus der Christus hat dies verkörpert und ist deswegen hingerichtet worden (u.a. Phil 2,7). Die lateinamerikanischen Bischöfe sagen 1968 in Medellín: „Wir müssen das Gewissen zur solidarischen Verpflichtung mit den Armen, zu der die Nächstenliebe uns führt, schärfen. Diese Solidarität bedeutet, dass wir uns ihre Probleme und Kämpfe zu eigen machen.

Dies muss sich in der Anklage der Ungerechtigkeit und Unterdrückung konkretisieren, im christlichen Kampf gegen die unerträgliche Situation, die Arme häufig erleiden müssen. Die Armut der Kirche muss Zeichen und Verpflichtung sein, Verpflichtung zur Solidarität mit denen, die leiden. Deshalb wollen wir, dass die Kirche Lateinamerikas den Armen diese Frohe Botschaft verkündet und mit ihnen solidarisch ist.“ Und Gustavo Gutiérrez, der das Kap. 14 über die Armut in den Texten von Medellín entscheidend geprägt hat, schreibt: „Solidarität verlangt, dass man in die Situation derer eintritt, mit denen man solidarisch ist“. Solidarität mit dem Unterdrückten heißt nicht nur, dass man seine Welt annimmt, seine Kultur, seinen gesellschaftlichen Status, sondern auch, dass man sich seine Nöte und Kämpfe zueigen macht.“ (nach G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung).

Von Dr. Willi Knecht

Willi Knecht war von 1976 - 1980 als „agente pastoral“ in den Indigenen Bauerngemeinschaften (comunidades campesinas) in der Pfarrei Bambamarca, Diözese Cajamarca, Peru.