Tupac Amaru liegt an der Peripherie in La Paz. Die kleine Basisgemeinde "CEB Tupac Amaru" (auf dem Bild: Zwei bolivianische Frauen lesen in einem Gebet- und Liederbuch) trifft sich im Haus von Andrea Villazanti.
Zweites Vatikanum

Endlich erscheint die Morgenröte

„Endlich erscheint die Morgenröte“, sagte Papst Johannes XXIII. bei der feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dieses weltgeschichtliche Ereignis war auch eine Morgenröte für die Kirche in Lateinamerika – und konnte an viele „kleine“ lateinamerikanische Morgenröten in den Jahren zuvor anknüpfen.

Erstellt: 20.07.2014
Aktualisiert: 20.07.2022
Lesedauer: 

„Tantum aurora est …“ („Endlich erscheint die Morgenröte“), sagte Papst Johannes XXIII. bei der feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962. Dieses weltgeschichtliche Ereignis war auch eine Morgenröte für die Kirche in Lateinamerika – und konnte an viele „kleine“ lateinamerikanische Morgenröten in den Jahren zuvor anknüpfen.

Denn zahllose Initiativen hatten den Boden dafür bereitet, dass jene im Konzil vollzogene Zuwendung der Kirche zur „Welt“ (wie sie ist) in Lateinamerika reiche Frucht tragen konnte. An erster Stelle ist die Katholische Aktion zu nennen: die Mitwirkung der Laien am Apostolat, in Brasilien seit 1936 landesweit vorangetrieben von einem jungen Priester, Helder Camara. Aus der Katholischen Aktion gingen segensreiche Werke der Sozialpastoral hervor und Debatten junger Intellektueller, die Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika verändern sollten. Zweitens entstanden aus der Bibelbewegung – hier und da – Bibelkreise, die ihrerseits zu Wurzeln der in den späten 1950er Jahren beginnenden Basisgemeinden wurden.

Die Antworten vieler (bei weitem nicht aller!) lateinamerikanischer Bischöfe auf die Aufforderung von Papst Johannes XXIII. im Jahre 1959, Vorschläge zur Tagesordnung des kommenden Konzils einzureichen, zeigen, dass sie ein „Konzil anderer Art“ erhofften als das „Concilium Plenarium de America Latina“, das 1899 in Rom stattgefunden hatte. Damals hatte die Kurie ihre Absichten hinsichtlich der Entwicklung der lateinamerikanischen Kirche im 20. Jahrhundert dargelegt; die Bischöfe berieten u. a. über „Methoden des Kampfes gegen den Protestantismus“, denn der galt als „Grund der modernen Irrtümer“. Mit jenem Plenarkonzil von 1899 hatte es für mehr als ein halbes Jahrhundert sein Bewenden.

Mehrere Bischöfe sitzen auf einem Podium, im Publikum sitzen weitere Bischöfe.
Bild: © KNA

Auf der II. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) 1968 in Medellin berieten die Bischöfe, wie die Ergebnisse und Aufbrüche des Konzils aufgenommen und weitergeführt werden sollten.

Dann, 1955, ein Ereignis von weitreichender Bedeutung: Beim Eucharistischen Kongress in Rio de Janeiro beschlossen die lateinamerikanischen Bischöfe, es nicht bei gelegentlichen Treffen zu belassen, sondern ihrer Kirche eine Struktur zu geben und den Heiligen Vater zu bitten, einen Bischofsrat, den Consejo Episcopal Latinoamericano (CELAM) gründen zu dürfen. Dank des CELAM war die eher kleine Schar lateinamerikanischer Bischöfe beim Konzil (klein im Verhältnis zur Zahl der dortigen Katholiken wie zur Zahl europäischer Bischöfe) austauschgeübt. Anders als die europäischen Bischöfe standen sie selten im Mittelpunkt. Doch die Erfahrung des Ökumenischen Konzils (im ursprünglichen Wortsinn: „weltweit“) hat sie tief bewegt. Mit den Mitbrüdern aus Afrika und Asien erlebten sie, wie viel die Kirchen des Südens der Weltkirche zu geben haben. Ihre pastorale Erfahrung ging in die Beschlüsse Lumen gentium und Gaudium et spes ein. Einige gehörten der informellen Gruppe „Kirche der Armen“ an, die sich am Ende des Konzils, bei einer Heiligen Messe in den Katakomben der Domitilla , verpflichteten, ihr bischöfliches Amt im Geiste der evangelischen Armut auszuüben. Diese 13 Selbstverpflichtungen wurden in deutscher Sprache erstmals in einer 1969 in Ostberlin erschienenen Biographie von Camilo Torres veröffentlicht und in Westdeutschland zunächst kaum wahrgenommen.

Nach Lateinamerika zurückgekehrt, wussten die Bischöfe, dass – wenn man hinter die lebendige Volksfrömmigkeit sah – viel zu tun war: Vielerorts herrschte die Meinung, zum Christsein genüge der Empfang der Sakramente; es mangelte an Priestern; die religiöse Bildung war erschreckend gering. 1968 kamen die Bischöfe in Medellín (Kolumbien) zusammen und berieten, wie die Ergebnisse und Aufbrüche des Konzils aufgenommen und weitergeführt werden sollten. Papst Paul VI. kam zur Eröffnung und nannte in einer wegweisenden Predigt in San José de Mosquera die Armen „das Sakrament Christi“. In Medellín nutzten die Bischöfe die Methode „sehen – urteilen – handeln“. Anders als in früheren kirchlichen Dokumenten üblich, gehen die Beschlüsse von Medellín nicht von Glaubensaussagen und dem Kirchenrecht aus, sondern beginnen mit den „Zeichen der Zeit“. „Das II. Vatikanische Konzil spricht von der Unterentwicklung der Völker unter dem Blickwinkel der entwickelten Länder, um diese an ihre Möglichkeiten und Verpflichtungen jenen gegenüber zu erinnern. Medellín dagegen versucht, das Problem von den armen Ländern aus anzugehen, und definiert sie deshalb als Völker, die einer neuen Spielart von Kolonialismus unterworfen sind.“ (Gustavo Gutiérrez: Theologie der Befreiung)

Hunderte Bischöfe sitzen in einem großen Saal
Bild: © KNA

Auf der Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) 1979 in Puebla berieten die Bischöfe, wie die Ergebnisse und Aufbrüche des Konzils aufgenommen und weitergeführt werden sollten.

Bischöfe stehen um einen Altar
Bild: © KNA

Auf der Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) in Puebla 1979 bestätigten die Bischöfe auch die Option für die Armen.

„Medellín“ war nicht nur lateinamerikakirchlich bahnbrechend, sondern erwies sich als weltkirchliches Ereignis, als Ende der Einbahnstraße. Bis dato sah sich Europa als Zentrum der Weltkirche und gab den Ton an. Doch nun „auf einmal“ Bewegung von der Peripherie! Das erregte Aufsehen. Die Übersetzung der Beschlüsse von Medellín durch Adveniat fand reißenden Absatz. Der Beschluss von Medellín war kein Schluss, sagte Marcos Gregorio McGrath, einer der maßgeblichen Persönlichkeiten des CELAM. Im Gegenteil: „Medellín“ ermutigte eine neue pastorale Praxis in den ausgedehnten Pfarreien und in den kleinen Basisgemeinden: in den Bergen der Anden, im Amazonas-Tiefland und in den Elendsvierteln der wuchernden Millionenstädte. Gar nicht überschätzt werden kann dabei der Beitrag der Orden, zumal der Ordensschwestern. Und es erwies sich als ein Kairos, dass damals zwei junge Hilfswerke, Misereor und Adveniat, bereitstanden, die Projekte jener Aufbruchszeit mitzufinanzieren und die Kirche in Lateinamerika aus der Abhängigkeit vom Wohlwollen der Reichen zu befreien.

Elf Jahre später, bei der folgenden Generalversammlung in Puebla (Mexiko) 1979, bestätigten die Bischöfe die lateinamerikanische Weise der Verwirklichung des Konzils, als sie sich zu fünf Optionen verpflichteten, darunter die Option für die Armen, die Option für die Basisgemeinden und die Option für die ganzheitliche Befreiung. In dieser guten Tradition feiert die Kirche in Lateinamerika den 50. Jahrestag des Endes des Konzils als einen Auftakt, als „Gegenwart des Vergangenen“ (Augustinus).

Von Von Michael Huhn/Adveniat

Dieser Text erschien zuerst im Jahresbericht Weltkirche 2014.