Schleichender Mord
Im Interview berichtet Benjamin Pütter von den gefährlichen Bedingungen der Kinderarbeit.
Aktualisiert: 20.09.2022
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Seit November 2015 berät Benjamin Pütter das Kindermissionswerk „Die Sternsinger" zum Thema Kinderarbeit. Beraten – für den 57-Jährigen ist das nichts, was man nur vom Schreibtisch aus tun kann. „Ich arbeite immer vor Ort, gehe investigativ vor und spreche viel mit den Kindern“, erzählt er. Dass weltweit etwa 168 Millionen Mädchen und Jungen arbeiten, mehr als die Hälfte von ihnen unter ausbeuterischen oder gefährlichen Bedingungen, ist für ihn ein unhaltbarer Zustand.
Frage: Kann man Kinderarbeit eigentlich genau definieren? Was ist Kinderarbeit?
Pütter: Was ist Kinderarbeit... Kinderarbeit bedeutet, wenn eine Person unter 14 Jahren nicht in die Schule gehen darf, weil sie arbeiten muss. Ich werde in Deutschland oft angesprochen, und dann sagt mir jemand: „Och Herr Pütter, Kinderarbeit ist doch nicht so schlimm, ich hab als Kind auch auf dem Feld mitgeholfen.“ Dann frage ich sofort zurück: „Ach, und sie können nicht lesen und schreiben?“ „Natürlich kann ich lesen und schreiben, ich bin doch in die Schule gegangen“, bekomme ich dann als Antwort zu hören. Und genau das wird vielen arbeitenden Kindern verwehrt, und da wird der Unterschied dann offensichtlich. Wenn die Kinderarbeit dann auch noch ausbeuterisch und gesundheitsschädigend ist, gibt es für mich kein Pardon. Dann müssen diese Kinder da raus und in die Schule.
Frage: Sie haben sich vor allem in Indien ein Bild von solchen unerträglichen Zuständen gemacht - über 80 Mal sind sie bereits dorthin gereist. Was haben Sie auf Ihren Reisen erlebt?
Pütter: Ich habe Kinderarbeit erlebt, wo Kinder in Steinbrüchen so harte Arbeit machen müssen, dass ihre Gelenke kaputtgehen und sie an der Feinstaublunge sterben werden, bevor sie 30 Jahre alt sind. Das kann ich nicht akzeptieren, denn das ist kein Erlernen eines Berufes, sondern das ist schleichender Mord.
Frage: Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Berater in den Themenfeldern Kinderarbeit und Kinderrechte?
Pütter: Als Berater für Kinderarbeit sehe ich drei Beratungsstränge. Zum ersten berate ich Gruppen vor Ort, in dem, was sie tun, wie sie es tun, und das ist immer auch eine vergleichende Beratung. Ich zeige dann Beispiele aus anderen Ländern und Regionen auf und hinterfrage gemeinsam mit den Menschen, warum das hier anders läuft. Anhand der beschriebenen Beispiele lässt sich dann leichter eine Veränderung der eigenen Vorgehensweise erwirken.
Wichtig ist es auch, Kinder mit einzubeziehen, zum Beispiel Kinderparlamente zu bilden, sodass Kinder selber lernen, Politik mitzugestalten. Zum zweiten will ich ein Hilfswerk beraten, damit es wahrgenommen wird als Fachstelle zum Thema Kinderarbeit. Und die dritte Aufgabe sehe ich in der Beratung von Spendern in Deutschland.
Frage: Für viele sozialschwache Familien, nicht nur in Indien, ist die Mitarbeit der eigenen Kinder überlebensnotwendig. Gibt es mögliche Alternativen zur Kinderarbeit?
Pütter: Wenn wir langfristig denken, dann natürlich, und der beste „Arbeitsplatz“ für Kinder ist die Schule, denn da gehören sie hin. Kurz- und mittelfristig gesehen muss man festhalten, dass die Kinder ja auch oft deshalb so arm sind und arbeiten müssen, weil die Eltern nicht lesen und schreiben können und sie ausgebeutet werden. Also kann ein Programm gegen Kinderarbeit nie nur das Kind alleine sehen, sondern muss auch das Umfeld, die Familie einbeziehen. Es müssen einkommensschaffende Maßnahmen für die Erwachsenen geschaffen werden, denn wenn Eltern Arbeit haben und Geld verdienen, dann möchten sie ihre Kinder auch in die Schule schicken, in den meisten Fällen ist das zumindest so. Und wenn wir dafür die Grundlage schaffen, dann haben wir viel erreicht.
Frage: 2017 wird in Argentinien die vierte Weltkonferenz zum Thema Kinderarbeit stattfinden.
Erstmals soll dort auch die Perspektive der Mädchen und Jungen gehört werden, die unter zum Teil unzumutbaren Bedingungen arbeiten müssen. Möglich macht dies die Kampagne „Zeit zu reden!“, die auch vom Kindermissionswerk ,Die Sternsinger’ unterstützt wird. Ein guter Ansatz?
Pütter: Extrem wichtig! Es ist aber auch wichtig, mit Kindern vor Ort zu sprechen, sie miteinander ins Gespräch zu bringen und sie zu stärken, so zum Beispiel Kinder-und Jugendparlamente zu gründen. Wenn das jetzt in größerem Rahmen passiert, ist das super.
1998 gab es ja den weltweiten Marsch gegen Kinderarbeit. Damals sind Kinder von Lateinamerika, Afrika und Asien aus nach Genf gegangen, um sich für neue Kinderrechte einzusetzen. So sind die neuen Kinderrechte entstanden, weil Kinder gehört wurden, da hat sich weltweite Politik verändert. Und jetzt zu sehen, dass es wieder so einen Ansatz gibt, das ist top. Dazu möchte ich etwas beitragen. Wichtig ist auch, dass eine große Bandbreite von Kindern dabei ist, dass nicht nur die gehört werden, die immer die gleiche Meinung haben. Bei dieser Auswahl dabei zu sein, darauf freue ich mich.