Professor Dr. August Stich

Wir müssen global-solidarisch handeln

Afrika ‐ Professor Dr. August Stich über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent.

Erstellt: 02.06.2020
Aktualisiert: 22.07.2022
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Der Infektiologe und Tropenmediziner Professor Dr. August Stich leitet die Tropenmedizinische Fachabteilung am Klinikum Würzburg Mitte. Im Interview spricht er über Auswirkungen der Corona-Pandemie in afrikanischen Ländern, über Unterschiede zu Deutschland und warum der Kirche in Afrika in der Bewältigung der Krise eine besondere Rolle zukommen kann.

Herr Professor Dr. Stich, Sie stehen mit vielen Kolleginnen und Kollegen in der Welt in Kontakt. Was erzählen die Ihnen über die Situation in Afrika?

Professor Dr. Stich: Im Moment zeichnet sich ein komplexes Bild ab. Wir können nicht sagen „so ist es in Afrika und so in Asien“, sondern wir müssen immer genau hinschauen, über welches Land und über welche Situation wir sprechen. Wenn man aber trotzdem versucht, etwas allgemeinere Schlüsse zu ziehen, dann sehen wir, dass wir in Afrika im Moment sehr viel niedrigere Zahlen bestätigter Infektionen verzeichnen. Zeitlich hinkt Afrika der Entwicklung in Europa und den USA deutlich hinterher. Hinzu kommt, dass es kaum Testmöglichkeiten gibt. Und ganz entscheidend: Wir haben eine ganz andere Bevölkerungsschichtung. In den meisten Entwicklungsländern haben wir typischerweise eine Bevölkerungspyramide mit wenig alten und vielen jungen Menschen. In den meisten Ländern Afrikas ist mehr als 50 Prozent der Bevölkerung unter 25. Das ist das Segment, wo wir wissen, dass Corona am wenigsten Symptome erzeugt und am wenigsten schwer verläuft.

Frage: Gibt es weitere besondere Faktoren in afrikanischen Ländern?

Professor Dr. Stich: Wir sehen dort eine viel größere Hintergrundsterblichkeit. Menschen in Entwicklungsländern sterben viel häufiger an Malaria, Durchfallerkrankungen, Tuberkulose und HIV als hierzulande. Das bedeutet, dass zusätzliche Ausschläge in der Gruppe der älteren Leute, die durch Covid verursacht werden, gar nicht so wahrgenommen werden wie hier. Deswegen kann man sich vorstellen, dass Corona über Afrika hinwegzieht, ohne eine solche durchschlagende Wirkung wie in industrialisierten Ländern zu entfalten.

Frage: Werden die gesundheitlichen Auswirkungen denn dann in afrikanischen Ländern weniger stark sein?

Professor Dr. Stich: Die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem sind trotzdem enorm. Wir werden zwar keine überlaufenen Intensivstationen in Afrika sehen, weil es die gar nicht gibt. Doch wir nehmen eine große Sorge vieler Gesundheitsmitarbeiter wahr. Sie schicken zum Beispiel Schwangere wieder nach Hause und sagen: ‚Gehen Sie besser wieder in Ihr Dorf und entbinden Sie dort. Hier ist es zu gefährlich. ‘ Es herrschen große Verunsicherung, fast Panikreaktionen bei Mitarbeitern in den Gesundheitsdiensten. Auch Impfprogramme brechen zusammen, weil sich niemand mehr wegen Corona auf die Straßen traut. Das alles führt zu einer wesentlichen Verschlechterung der Gesundheitsversorgung.

Frage: Wie sieht es mit den sozialen Auswirkungen aus?

Professor Dr. Stich: Wir hier in Deutschland haben einen Staat im Hintergrund, der um ein Vielfaches stärker ist als der in Entwicklungsländern. Wir haben Rettungsschirme, Kurzarbeitergeld, eine Arbeitslosenversicherung und können damit viele Dinge abfedern. Aber der Schuhputzer in den Slums, der jetzt unter einem oft noch viel rigoroseren Lockdown zu leiden hat, der nicht vor die Tür seiner Wellblechbaracke gehen darf, verliert seine Existenz. Da ist es eine Frage des Überlebens. Wir werden soziale Unruhen, Aufstände und Hungersnöte sehen und einen Zusammenbruch von vielen Strukturen, die wir bisher eigentlich als gegeben angenommen haben. Auf so etwas müssen wir uns vorbereiten. Dann ist es unsere Aufgabe als Kirche, Ihre Aufgabe als Hilfswerk, hier den Partnern einfach zur Seite zu stehen und den Weg mit ihnen zu gehen

Frage: Haben die Menschen in Afrika Erfahrungen gesammelt, wodurch sie besser mit einer Epidemie umgehen können?

Professor Dr. Stich: Ich kann nicht sagen, dass in Afrika besser mit Seuchen umgegangen wird. Das wäre viel zu undifferenziert. Doch es gibt gute Erfahrungen im Zusammenhang mit Ebola. 2014 und 2015 brach die größte Ebola-Epidemie aller Zeiten aus, die hauptsächlich drei Länder betroffen hat: Guinea, Liberia und Sierra Leone. Infolgedessen sind eine Reihe von Hilfsprogrammen angelaufen, vor allem auch Schulungsprogramme, um die Länder mit Ebola vertraut zu machen und zukünftige Ausbrüche besser zu bekämpfen. Es zeigt sich jetzt, dass die Länder und die Organisationen viel besser aufgestellt sind, die die Ebola-Schulungen durchlaufen haben, weil das Bewusstsein für Infektionsschutz viel größer ist.

Frage: Wir sehen im Moment, dass es viele Fehlinformationen und Fake News im Zusammenhang mit Corona gibt. Kann die Kirche bei der Aufklärung helfen?

Professor Dr. Stich: Es gibt aufgrund der hohen Krankheitslast im ärmsten aller Kontinente eine Jahrtausende alte Erfahrung mit schwerer Krankheit und der Omnipräsenz von Tod. Es gedeihen schnell Theorien, dass Krankheiten einen mystischen Bezug haben, von irgendwas Dunklem kommen. Solche Erklärungstheorien verbreiten sich schnell und finden Gehör. Die Kirche kann den Blick auf die Fakten richten, auf das, was wahr ist. Sie kann sich gegen Fake News und alle mystischen Erklärungen stellen. Kirchliche Mitarbeiter können Materialien zur Verfügung stellen und Schulungen durchführen. Und das bis auf die untersten Ebenen der Gemeindearbeit. Dahinter steckt eine ungeheure Kraft, wenn mit den richtigen Instrumenten gearbeitet wird.

Stärkung lokaler Systeme

Frage: Welche Rolle kann die katholische Kirche im Hinblick auf die Corona-Epidemie in afrikanischen Ländern spielen?

Professor Dr. Stich: In dieser Krise zeigt es sich wie in vielen anderen Dingen auch, wie wichtig eine Stärkung der lokalen Systeme ist: des Gesundheitssystems, der Zivilgesellschaft, der Dinge, die eigentlich eine Gesellschaft zusammenhalten. Und in diesem Zusammenhang spielt die katholische Kirche eine ungeheuer bedeutende Rolle. Wir in Deutschland sehen die katholische Kirche ja eigentlich nur mit unserer Brille: der unsägliche Missbrauchsskandal, der Vertrauensverlust der Kirche in der öffentlichen Meinungsbildung, die Diskussion um Frauen im Priesteramt, Maria 2.0 und der synodale Weg. Das ist alles wichtig und muss unbedingt bearbeitet werden, keine Frage. Doch es ist ein Tunnelblick auf unsere Verhältnisse. Global gesehen spielt die Kirche eine weitaus wichtigere Rolle, als wir uns das hier vorstellen können. Die Kirche ist ein Global Player, wenn man so will, und sie hat ein Netzwerk, das viele andere Organisationen sich nur wünschen können.

Frage: Können Sie vielleicht ein Beispiel nennen?

Professor Dr. Stich: Wir haben mit Covid-19 noch wenig Erfahrungen, aber wir haben sie mit Ebola im Kongo: Auf dem Höhepunkt der zweitgrößten Ebola-Epidemie gab es 2019 tausende Tote in einer Region im Ost-Kongo, die seit Jahrzehnten von einem furchtbaren Bürgerkrieg heimgesucht wird. Die Weltgesundheitsorganisation wunderte sich, warum die Bevölkerung im Kongo nicht bereit war, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Schließlich fand sie heraus, dass Ebola für die Menschen dort das Geringste aller Probleme ist. Die größten Probleme sind Krieg, Hunger, Perspektivlosigkeit, Korruption und marodierende Bewaffnete, die durchs Land ziehen. Die Menschen misstrauten jeder Aussage, die von außen kam, auch solchen der Regierung in Kinshasa.

Im August 2019 besuchte Kardinal Peter Turkson aus Rom den Ost-Kongo. Zusammen mit den Bischöfen versuchte er, die katholische Kirche in den Ausbruchsgebieten zu mobilisieren, all die Priester, Ordensleute, Schwestern und Gemeindearbeiter. Seine Botschaft war: ‚Es kommt jetzt sehr auf euch an und ihr müsst jetzt in euren Dörfern Maßnahmen der Hygiene zur Bekämpfung von Ebola zulassen‘. Und mit einem Mal gingen die Fallzahlen massiv zurück bis zum heutigen Tag, wo Ebola praktisch vorbei ist. Das Beispiel im Kongo zeigt, welche Kraft hinter der Kirche als Struktur stehen kann, wenn sie ihre Kräfte bündelt. Und so ist es jetzt auch, eine Chance, die wir mit der Corona-Pandemie haben.

Frage: Was können wir hier in Deutschland tun?

Professor Dr. Stich: Wir müssen global-solidarisch handeln. Das heißt, wir hier in Deutschland müssen verstehen, es geht nicht nur um unseren Mundschutz, ob Altersheime wieder besucht werden können, ob man ins Restaurant gehen kann und Biergärten öffnen, sondern dass es eine Bedrohung für die Ärmsten dieser Welt ist und damit eine solidarische Aufgabe für uns alle. Und welche andere Struktur als die Kirche – ich will da jetzt nicht sagen katholisch, sondern generell die Kirchen – wäre denn besser geeignet, wirklich nah am Menschen diese Arbeiten umzusetzen und Organisationen und Strukturen vor Ort zu stärken.

Von Missio Aachen

Was ist Missio?

Das Internationale Katholische Missionswerk Missio in Deutschland mit seinen Zweigen in Aachen und München gehört zu rund 100 Päpstlichen Missionswerken weltweit. Missio Aachen ist eines der großen deutschen Hilfswerke und fördert die katholische Kirche in Afrika, Asien und Ozeanien. 2018 stellt Missio Aachen rund 46,5 Millionen Euro für die Projektfinanzierung zur Verfügung. Davon wurden 1.192 Projekte seiner Partner in Afrika, Asien, dem Maghreb und Nahen Osten sowie Ozeanien finanziert. Diese Förderung stärkt die pastorale, soziale und interreligiöse Arbeit, die Infrastruktur sowie die Ausbildung von Laien, Priestern und Ordensleuten der katholischen Kirche in diesen Regionen. Mit ihrer Arbeit erreicht die Kirche dort nicht allein Christen, sondern trägt zur Verbesserung der Lebensumstände der gesamten Gesellschaft bei. In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens ist die Kirche oft die einzige Institution, die alle Menschen erreicht, da staatliche Strukturen schwach sind.