Zwischen Unterdrückung und Aufschwung

Wie kann man als Christ und Christin inmitten von Armut und Ungerechtigkeit leben? Aus dieser Frage entstand die Befreiungstheologie.

Erstellt: 01.12.2012
Aktualisiert: 13.07.2022
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„Wie kann man als Christ, als Christin inmitten von Armut und Ungerechtigkeit leben?” Dies ist die Ausgangsfrage, aus der in den 1960er und 1970er Jahren die Theologie der Befreiung entsteht. Haben so weltliche Dinge wie Armut und Ausbeutung überhaupt etwas mit dem Glauben und Leben der Christinnen und Christen zu tun? Wenn ja, welche Konsequenzen soll ein glaubender Mensch in solchen Lebensverhältnissen ziehen? Aus diesen Fragestellungen entsteht eine bedeutende theologische Strömung, die bis heute weltweiten Einfluss ausübt.

Bild: © KNA

Peruanischer Befreiungstheologe: Gustavo Gutierrez

Worum geht es in der Theologie der Befreiung?

Zwar wird gemeinhin das Erscheinen des Buches „Theologie der Befreiung. Perspektiven” (1971) des peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez, das der Bewegung ihren Namen gab, als Geburtsstunde der Befreiungstheologie angesehen, aber die Bewegung selbst war lateinamerikaweit aus vielen verschiedenen Quellen gleichzeitig entstanden: Aus der Erfahrung der Not, Verfolgung und Verarmung durch ungerechte politische und wirtschaftliche Systeme, aus der Kehrtwende, die die Katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanum hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Welt, Gesellschaft und Politik vollzogen hatte, und aus dem konkret gelebten Glauben vieler Christinnen und Christen Lateinamerikas inmitten von Armut, Ungerechtigkeit und Verfolgung.

Während jahrhundertelang die Kirche in Lateinamerika sich an der Kolonisierung und Ausbeutung der Menschen beteiligt hatte oder sich angesichts von Hunger und Elend für nicht zuständig erklärt oder allenfalls zur Mildtätigkeit aufgerufen hatte, stellen nun Christinnen und Christen die Frage nach den Ursachen der Armut. Dem brasilianischen Bischof Helder Camara (1909–1999) wird die Aussage zugeschrieben: „Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Aber wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, schimpfen sie mich einen Kommunisten.” Diese neue Perspektive führt zu einem Dialog zwischen kritischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und der Theologie. Da diese kritischen Wissenschaften in den 1960er Jahren in Lateinamerika oft vom Marxismus beeinflusst waren, wird der Befreiungstheologie wegen dieses interdisziplinären Dialogs zügig unterstellt, sie gebe christliche Wahrheiten zugunsten marxistischer Ideologie auf. Im aufgeheizten Klima des Kalten Krieges konnte sich die sachliche Zurückweisung dieser Verdächtigung durch zahlreiche Befreiungstheologen aber nicht mehr durchsetzen.

Parallel zur Alphabetisierungsbewegung in Brasilien (die mit dem Namen Paulo Freire verknüpft ist) und anderen basispädagogischen Bewegungen entsteht in der lateinamerikanischen Kirche die Bewegung und das Netzwerk der Basisgemeinden: kleine, meist lokal gebundene Gemeinschaften von gläubigen Laien, die sich regelmäßig treffen, um über ihren Glauben, die Bibel und ihr Alltagsleben zu sprechen. Aus dieser Basisgemeindenbewegung wird in manchen Ländern eine starke politische Kraft, die sich auch mit traditionell kirchenkritischen gesellschaftlichen Kräften wie den Gewerkschaften und linken politischen Parteien verbündet.

Sieben Menschen stehen betend um einen Tisch. An der Wand hängen Kreuze und Mariendarstellungen.
Bild: © Henning/Adveniat

Eine Basisgemeinde beim Gebet

Die „Option für die Armen”

Zentraler Bezugspunkt der Theologie der Befreiung bis heute ist die so genannte Option für die Armen. Angesichts eines gesellschaftlichen Konflikts zwischen Reichen und Armen, zwischen Mächtigen und Ausgebeuteten, zwischen staatlicher Gewalt und Verfolgung, kann die Kirche nicht versuchen, Neutralität zu behaupten. Sie muss die eine oder andere Position beziehen; und zwar muss sie sich entscheiden, wie der Gott der Bibel auf der Seite der Schwachen, Armen und Verfolgten zu stehen. Diese Überzeugung wurde auf der Gesamtkonferenz des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (Kolumbien) 1968 zum ersten Mal formuliert und auf der Folgekonferenz in Puebla (Mexiko) 1979 mit dem Begriff der „vorrangigen Option für die Armen” erneut bestätigt.

Befreiungstheologie im Konflikt

Trotz dieser hochrangigen und klaren bischöflichen Unterstützung der Befreiungstheologie wurde sie von Beginn an in Lateinamerika und Europa angefeindet und seit 1983 auch immer stärker durch die Glaubenskongregation des Vatikans kritisch angefragt. 1984 und 1986 veröffentlichte diese Kongregation zwei Instruktionen gegen die Theologie der Befreiung, die weithin als massive Verurteilung betrachtet wurden und massive Schwierigkeiten für Bischöfe, Theologen und Theologinnen, die sich dieser Theologie verpflichtet wussten, nach sich zogen. Obwohl Papst Johannes Paul II. gleichzeitig im Dialog mit den brasilianischen Bischöfen die Legitimität und Notwendigkeit der Befreiungstheologie unterstrich, wurde seit Mitte der achtziger Jahre vielen Theologen die Lehrerlaubnis entzogen.

Dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff erlegte die Glaubenskongregation ein „Bußschweigen” auf. Vielen befreiungstheologisch orientierten Bischöfen wurden durch den Vatikan Nachfolger gegeben, die sich von der Pastoral ihrer Vorgänger massiv absetzten und deren Früchte teilweise zerstörten.

Diese innerkirchliche Konfliktsituation wurde massiv verschärft durch eine wachsende staatliche und gesellschaftliche Verfolgung der Befreiungstheologie. Da bis in die 1980er Jahre in den meisten lateinamerikanischen Staaten Militärdiktaturen herrschten, wurden viele Menschenrechte nicht beachtet, und gewaltsame Verfolgung von Andersdenkenden war an der Tagesordnung. Viele Christinnen und Christen, Priester und einige Bischöfe wurden ermordet, am prominentesten vielleicht der Bischof von San Salvador, Oscar Romero (1917–1980). Bis heute wird diskutiert, wie groß der Einfluss der innerkirchlichen Kritik an der Befreiungstheologie auf die wachsende Gewalt staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte auf ihre Vertreterinnen und Vertreter einzuschätzen ist.

Aktuelle Entwicklungen

Die gesellschaftlichen Entwicklungen Lateinamerikas seit dem Ende der Militärdiktaturen zogen vielfache Veränderungen in der Theologie der Befreiung nach sich. Zunächst entdeckten vor allem die Frauen, die indigenen Völker und afroamerikanische Theologinnen und Theologen, dass in den primär sozioökonomisch orientierten Armutsanalysen der frühen Befreiungstheologie ihre spezifischen Unterdrückungs- und Ausgrenzungssituationen nicht ausreichend berücksichtigt worden waren. Vor allem seit der Jahrtausendwende entwickelt sich die Theologie der Befreiung rasant in sehr unterschiedlichen Perspektiven weiter: Die Bedeutung des religiösen Pluralismus für Armut und Ungerechtigkeit wird erkannt; das vielfältige Problem der Migration immer neu analysiert; ökologische Themen werden aufgegriffen, es entstehen „queere“ Theologien, in denen sexuelle Fragen von Grund auf neu diskutiert werden. Zahlreiche weitere Themen werden mit dem erneuerten methodologischen Inventar der Befreiungstheologie aufgegriffen und bearbeitet.

„Vor allem seit der Jahrtausendwende entwickelt sich die Theologie der Befreiung rasant in sehr unterschiedlichen Perspektiven weiter.“

—  Zitat: Dr. Stefan Silber

Eine Zersplitterung der befreiungstheologischen Bewegung ist hingegen nicht in Sicht. Vielmehr wächst die Überzeugung von der Notwendigkeit vielschichtiger Analysen aus unterschiedlichen Perspektiven, um der Realität von Armut und Ungerechtigkeit wirklich näher zu kommen. Auf internationalen Kongressen wie dem Kontinentalkongress für Theologie 2012 in Sao Leopoldo zeigt sich vielmehr, wie diese verschiedenen Perspektiven sich selbst als Anfrage an andere befreiungstheologische Perspektiven verstehen, geeint jedoch unter der gemeinsamen Sorge um christliche Konsequenzen aus der Erfahrung von Armut und Unterdrückung.

Rezeption in Deutschland

Während die frühe Befreiungstheologie in den 1980er Jahren ein großes Echo in Deutschland auslöste, wurde es hierzulande nach dem Fall der Berliner Mauer still um diese vermeintlich „sozialistische” Theologie. Nur wenige Institutionen und einzelne Theologinnen und Theologen griffen die Überlegungen und Fortschritte dieser theologischen Bewegung auf. Genannt seien hier das Institut für Theologie und Politik in Münster, die Missionszentrale der Franziskaner und Misereor. In der deutschsprachigen akademischen Theologie ist eine Rezeption weithin ausgeblieben – wohl mit Ausnahme der Schulen von Elmar Klinger (Würzburg) und Johann B. Metz (Münster), der Arbeit des Stipendienwerks Lateinamerika-Deutschland e. V. (ICALA) unter Peter Hünermann und Margit Eckholt sowie von einzelnen weiteren Theologinnen und Theologen.

Seit der Jahrtausendwende entstehen darüber hinaus neue Netzwerke, nicht zuletzt auch wieder von Theologiestudierenden und jungen Theologinnen und Theologen, die sich auch international vernetzen, sowohl im deutschsprachigen Raum als auch weltweit. Gerade in den Netzwerken der jüngeren Generation entstehen darüber hinaus neue Verbindungen zu politischen Akteuren in Deutschland, wie der Asylbewegung, Globalisierungsgegnern, der Friedensbewegung und den Netzwerken gegen Armut bei uns. Durch persönliche Kontakte und das Internet werden vielfältige, auch ökumenische Kontakte zu Theologinnen und Theologen in Lateinamerika gepflegt, sodass eine zeitnahe Auseinandersetzung mit den aktuellen Neuerungen in der Befreiungstheologie auch bei uns stattfindet, wenn auch in der Regel abseits vom theologischen und kirchlichen Mainstream.

Von Dr. Stefan Silber

Zum Autor

Dr. Stefan Silber ist Pastoralreferent der Diözese Würzburg. Von 1997 bis 2002 hat er in der Diözese Potosí in Bolivien gearbeitet, und von 2011 bis 2013 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt „Großstadtpastoral in Lateinamerika” der Universität Osnabrück. Seit 2006 koordiniert er die „Plattform Theologie der Befreiung”.