Bittere Pille
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Bittere Pille

Medizin ‐ Anfang dieser Woche haben in Indien sehr viele Menschen sehr viel Geld gespart. In einem Urteil wies das Oberste Gericht eine Klage des Pharmakonzerns Novartis ab. Das Schweizer Unternehmen hatte ein Patent für eine neue Variante seines Blutkrebsmedikaments "Glivec" erreichen wollen. Nach der letztinstanzlichen Entscheidung der Richter bleibt es aber dabei: Die Menschen können günstige Generika des Medikaments beziehen.

Erstellt: 04.04.2013
Aktualisiert: 09.01.2023
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Anfang dieser Woche haben in Indien sehr viele Menschen sehr viel Geld gespart. In einem Urteil wies das Oberste Gericht eine Klage des Pharmakonzerns Novartis ab. Das Schweizer Unternehmen hatte ein Patent für eine neue Variante seines Blutkrebsmedikaments "Glivec" erreichen wollen. Nach der letztinstanzlichen Entscheidung der Richter bleibt es aber dabei: Die Menschen können günstige Generika des Medikaments beziehen.

Für eine Monatsration reichen also auch künftig weniger als 200 Euro, bei einem Novartis-Produkt würden rund 2.000 Euro fällig. Auch wenn die genauen Zahlen und Preise je nach Quelle divergieren – sie zeigen, dass es für die Menschen um eine Menge Geld ging – vor allem angesichts der Tatsache, dass das Pro-Kopf-Jahreseinkommen in Indien nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds unter 4.000 Dollar liegt.

Dass das nun beendete Gerichtsverfahren ausgerechnet in dem südasiatischen Land ausgetragen wurde, ist kein Zufall. In den vergangenen Jahren hatte auch andere Pharmakonzerne wie Roche und Bayer bei Patentklagen in Indien empfindliche Niederlagen erlitten. Nicht umsonst wird das Land gerne als "Apotheke der Armen" bezeichnet.

Paradies für Generika-Hersteller

Denn das dortige Patentrecht hat eine Besonderheit: Wenn Medikamente bei ihrer Weiterentwicklung nicht eine essentiell verbesserte Wirkung erzielen, dürfen die Pharmakonzerne kein erneutes Patent auf das Produkt anmelden. "Die sogenannte ''Innovationsschwelle'' ist besonders hoch", erklärt Joachim Rüppel, Referent beim Missionsärztlichen Institut in Würzburg, der katholischen deutschen Fachstelle für internationale Medizin. Eine Kette von immer neuen Patenten auf ein nur sehr leicht verändertes Medikament – "Evergreening" genannt – ist in Indien im Unterschied zu vielen anderen Staaten der Welt nicht möglich.

„Südafrika etwa mit seinen vielen Aidskranken sollte überlegen, ob es nicht ähnlich strenge Patentierungsvorschriften einführt“

—  Zitat: Oliver Moldenhauer

Deswegen ist Indien eine Art Paradies für Hersteller von Medikamenten, die keinem Patent mehr unterliegen und daher kopiert und billig nachproduziert werden können. Die preiswerten Pillen der Generika kommen nicht nur der eigenen Bevölkerung zugute, sondern werden auch exportiert, etwa in andere Länder auf dem indischen Subkontinent oder nach Asien. Der Pharmaexperte der Organisation "Ärzte ohne Grenzen", Oliver Moldenhauer, spricht von weltweit rund sieben Millionen Menschen, die von den indischen Medikamenten profitieren.

Freude bei Nichtregierungsorganisationen - Novartis "entmutigt"

Umso mehr freut ihn das Urteil. "Es ist ein sehr wichtiger Präzedenzfall, der sich auch auf ähnlich gelagerte Rechtstreits auswirken wird", sagt er. Der Experte hofft außerdem, dass das Urteil die Regierungen anderer Staaten zum Nachdenken bringt: "Südafrika etwa mit seinen vielen Aidskranken sollte überlegen, ob es nicht ähnlich strenge Patentierungsvorschriften einführt", so Moldenhauer.

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Das sieht die Pharmaindustrie natürlich ganz anders. Ihr Argument sind die immens hohen Kosten der Entwicklung neuer und wirksamer Medikamente, die nur durch den Patentschutz wieder neutralisiert werden könnten. Dementsprechend enttäuscht reagierte auch der Konzern Novartis auf das indische Urteil. Es sei "entmutigend" für künftige Innovationen, schreibt Novartis. Der Indien-Vize des Konzerns, Ranjit Shahani, sagte, das Urteil sei schlussendlich auch ein Rückschlag für die Patienten in Indien, weil der medizinische Fortschritt behindert werde. Nach Angaben des US-Branchenverbandes PhRMA dauert es in den USA im Durchschnitt 15 Jahre und kostet eine Milliarde US-Dollar, um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen.

Doch solche Argumente überzeugen Oliver Moldenhauer und Joachim Rüppel nicht. So stecken nach Angaben Rüppels Pharmakonzerne nur 10 bis 15 Prozent ihrer Gewinne in Forschung und Entwicklung. Und es seien nicht nur die Pharmakonzerne, sondern auch staatlich finanzierte wissenschaftliche Stellen, die an der Entwicklung neuer Medikamente arbeiteten: "Diese haben aber nicht die Ressourcen für große Studien oder die industrielle Herstellung von Medikamenten", sagt Rüppel vom Missionsärztlichen Institut.

Investition in Kosmetik lukrativer als in Medikamente gegen Krankheiten der Armen

Eine Möglichkeit, um mehr Menschen einen bezahlbaren Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten zu ermöglichen, ist für Rüppel und Moldenhauer die Einführung sogenannter "Zwangslizenzen". Bei diesem Modell wird der Markt zwar nicht komplett freigegeben, der Staat erteilt aber auch anderen Konzernen als dem Entwickler die Erlaubnis zur Produktion eines bestimmten Medikaments. So entstehe ein Wettbewerb, der den Preis für die Pillen drückt.

Letztendlich plädieren beide jedoch für eine Umstrukturierung des Pharmasektors - weg vom Markt, hin zu einer staatlichen Lenkung: "Ideal wäre ein System, das nicht von hohen Einnahmen für die Medikamente lebt", sagt Moldenhauer. Joachim Rüppel erklärt warum: Beim bestehenden System sei der Anreiz hoch, dort zu forschen und zu investieren, wo am meisten Geld verdient werde. "Und das ist dort, wo die Einkommen hoch sind. Bei den armen Menschen funktioniert das nicht." So könne es im Extremfall lukrativer sein, in teure kosmetische Medikamente zu investieren, als in Medikamente gegen die tödlichen Krankheiten armer Menschen.

Nach dem indischen Urteil wünscht sich Rüppel übrigens auch Konsequenzen für Deutschland: "Wir sollten die Debatte über hohe Preise für Medikamente kritischer führen", fordert er. Über mehr günstigere Medikamente würden sich sicher auch hierzulande nicht wenige Menschen freuen.

Von Gabriele Höfling