„Nine is Mine“
Mit festem Blick schaut Jerubabel aus Indien in die Augen seiner Zuhörer. Er fragt: „Wer von Ihnen glaubt, dass die Kinder von heute die Bürger von morgen sind?“ Zustimmend recken Politiker, Entwicklungsexperten und Vertreter der Zivilgesellschaft die Hände in die Höhe. Sie alle sind nach New York gekommen, um auf dem UN-Sondergipfel über eine neue Entwicklungsagenda nach 2015 zu beraten. Langsam lassen sie die Hände wieder sinken. Wieder erhebt der Junge seine Stimme. Er sagt: „Sorry, da stimme ich nicht zu. Wir sind schon jetzt die Bürger von heute.“
Aktualisiert: 04.01.2023
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Mit festem Blick schaut Jerubabel aus Indien in die Augen seiner Zuhörer. Er fragt: „Wer von Ihnen glaubt, dass die Kinder von heute die Bürger von morgen sind?“ Zustimmend recken Politiker, Entwicklungsexperten und Vertreter der Zivilgesellschaft die Hände in die Höhe. Sie alle sind nach New York gekommen, um auf dem UN-Sondergipfel über eine neue Entwicklungsagenda nach 2015 zu beraten. Langsam lassen sie die Hände wieder sinken. Wieder erhebt der Junge seine Stimme. Er sagt: „Sorry, da stimme ich nicht zu. Wir sind schon jetzt die Bürger von heute.“
Mit fröhlichen Augen erzählt Thomas Pallithanam diese amüsante Anekdote. Zusammen mit Jerubabel, der von allen nur Raja genannt wird, und zehn weiteren Kindern aus den verschiedensten Teilen Indiens war der Salesianerpater Ende September zum Millenniumsgipfel nach New York gereist. Dort stellte die Gruppe ihre „Nine is Mine“-Kampagne vor. Nine is Mine – Neun gehören mir – drei kurze Worte, die zunächst nach nicht viel klingen, jedoch seit 2007, als die Kampagne startete, eine unheimliche Schlagkraft entwickelt haben.
Investitionen in Bildung und Gesundheit
„Nine“ steht für das Versprechen der indischen Regierung, dass sie spätestens bis zum Jahr 2015 sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den Bildungs- und drei Prozent in den Gesundheitsbereich investieren wird – ein Ziel, dass sich die Politiker vor dem Hintergrund der Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen selbst auferlegt hatten.
„Als wir die Kampagne ‚Nine is Mine‘ starteten, wurden für Bildung weniger als drei Prozent und für Gesundheit weniger als ein Prozent des indischen Bruttoinlandsproduktes ausgegeben“, erzählt Pater Thomas, Menschenrechtler und Mitorganisator der Kampagne, mit der Kinder aus allen Teilen Indiens seit sechs Jahren die politische Führungsriege des Landes an ihr 9-Prozent-Versprechen erinnern.
Recht auf Grundschulausbildung
Besonders im Blick haben sie dabei das zweite der insgesamt acht Millenniumsentwicklungsziele. Demnach soll bis zum Jahr 2015 sichergestellt sein, dass alle Kinder weltweit eine Grundschulausbildung vollständig abschließen können. Laut der Vereinten Nationen hat Indien dieses Ziel schon jetzt überschritten. Ob es allerdings auch weltweit erreicht werden kann, ist zweifelhaft. Zwar sank nach UN-Angaben zwischen 2000 und 2011 die Zahl der Kinder, die keine Schule besuchen, von 102 Millionen auf 57 Millionen und damit um fast die Hälfte. Doch dieser Rückgang hat in den vergangenen sechs Jahren deutlich an Fahrt verloren. Noch immer können 123 Millionen Jugendliche im Alter von 15 bis 24 Jahren nicht richtig lesen und schreiben.
Während sich Politiker und Entwicklungsexperten die Köpfe darüber zerbrechen, wie alle Entwicklungsziele bis 2015 weltweit erreicht werden können, haben die jungen „Nine-is-Mine“-Botschafter in Indien längst die Initiative ergriffen.
Von Kindern für Kinder
Pater Thomas berichtet von Unterschriftenaktionen, Straßenumfragen, Informationsveranstaltungen und Lobbyarbeit – alles organisiert von Kindern für Kinder. Dabei fangen sie in ihrem direkten Lebensumfeld an. Mit Check-Karten kontrollierten rund 10.000 „Nine-is-Mine“-Botschafter in ganz Indien die Qualität und Ausstattungen ihrer eigenen Schulen. Das Ergebnis wurde in einem Buch festgehalten und den zuständigen Ministerien in der Hauptstadt Neu-Delhi vorgelegt.
Höhepunkt des vierten Kampagnen-Jahres sei der „Rail Yatra“ gewesen, eine Zugreise quer durch Indien, erinnert sich der 63-jährige Salesianer. Auf drei verschiedenen Routen hätten neun Kinder in neun Tagen neun Staaten und Städte bereist, um dort über das 9-Prozent-Versprechen der Regierung und ihre Kampagne zu informieren.
Das Resultat kann sich sehen lassen: „Inzwischen sind die Ausgaben für Bildung und Gesundheit um insgesamt zwei Prozentpunkte gestiegen“, freut sich Pater Thomas. „Warum benutzen wir diese Strategie also nicht in allen Ländern weltweit?“ Um die Millenniumsziele zu erreichen, müsse die Bevölkerung Druck auf ihre Regierungen ausüben und ihr Recht auf Bildung und Gesundheit einklagen – so, wie es die Kinder von „Nine is Mine“ auch tun. Und die Praxis zeigt: Die Bürger von heute können die Welt verändern.
Von Lena Kretschmann