„Sie werden direkt auf die Schlachtfelder geschickt“
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„Sie werden direkt auf die Schlachtfelder geschickt“

Kindersoldaten ‐ Seit Jahren terrorisiert die islamistische Miliz Boko Haram die Bevölkerung in Tschad, Nigeria und Kamerun. Im Einsatz sind dabei auch immer wieder Kindersoldaten, wie der Misereor-Experte Vincent Hendrickx weiß. Ein Gespräch über Perspektivlosigkeit, interreligiösen Dialog und die stetige Hoffnung auf Frieden.

Erstellt: 12.02.2016
Aktualisiert: 15.04.2020
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Seit Jahren terrorisiert die islamistische Miliz Boko Haram die Bevölkerung in Tschad, Nigeria und Kamerun. Im Einsatz sind dabei auch immer wieder Kindersoldaten. „Die Jugendlichen werden mit Geld gelockt“, berichtet Vincent Hendrickx. Er ist Verbindungsstellenleiter des katholischen Hilfswerks Misereor im Tschad und kennt die krisengeschüttelte Region gut. Gerade ist er von einem Projektbesuch aus Nord-Kamerun zurückgekehrt. Ein Gespräch über die Gefahr der Perspektivlosigkeit bei Jugendlichen und was interreligiöser Dialog für den Frieden bewirken kann.

Frage: Sie waren bis vor kurzem in Kamerun unterwegs. Wie präsent ist das Thema Boko Haram dort?

Hendrickx: Das Thema ist sehr präsent. Ich selber war in Maroua, in der Region Nord-Kamerun, wo Boko Haram bislang am aktivsten war und viele Anschläge in den letzten zwei Jahren verübt hat. Die Leute in Maroua trauen sich kaum, den vollständigen Namen von Boko Haram auszusprechen, so verunsichert sind sie. Sie sagen stattdessen zum Beispiel BH oder „diese Leute“.

Frage: Wie gestaltet sich das Leben in Maroua?

Hendrickx : In den vergangenen Monaten ist Maroua von Anschlägen verschont geblieben. Das heißt, trotz vieler Polizeikontrollen und einer Ausgangssperre ab 20 Uhr führen die Menschen hier derzeit ein halbwegs normales Leben.  Allerdings schlafen die meisten Bewohner der Dörfer an der Grenze zu Kamerun nachts nicht in ihren Häusern, sondern in den angrenzenden Bergen. Sie haben Angst vor Angriffen.  Tagsüber gehen sie dann zurück in die Dörfer, beispielsweise um ihre Felder zu bestellen. Doch auch das ist problematisch. Die Leute haben Sorge, dass sich Kämpfer in den Getreide- oder Hirsefeldern  verstecken. Sie sind deshalb weniger effizient, bauen weniger an. Die Wirtschaftskraft insgesamt geht zurück. Die Leute können ihren Lebensstandard nicht mehr halten.

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Frage: Was wissen Sie über den Einsatz von Kindersoldaten bei Boko Haram?

Hendrickx : Ich hatte in der letzten Zeit viele Gespräche mit Priestern, die mir berichtet haben, dass auch aktuell noch viele Kinder und Jugendliche für Boko Haram kämpfen. Sie sind in den vergangenen Monaten direkt auf die Schlachtfelder geschickt worden – die meisten, ohne für das Kämpfen ausgebildet zu sein. Sie haben deshalb gegen trainierte Soldaten keine Chance. Andersherum ist es natürlich auch für die Soldaten der kamerunischen Armee psychologisch kritisch, auf Kinder und Jugendliche schießen zu müssen. Vor allem Straßenkinder sind perfekte Zielobjekte für Boko Haram, um neue Soldaten zu rekrutieren.

 

Frage: Werden die Kinder und Jugendlichen zwangsrekrutiert, zum Beispiel durch Kidnapping?

Hendrickx : Nein, das ist eher die Ausnahme als die Regel. Meistens werden sie eher mit Geld gelockt, bekommen Motorräder geschenkt. Das passiert weniger in den Städten, sondern mehr in den Grenzregionen zu Nigeria. Die Situation ist vielerorts doch wie für Boko Haram gemacht.

Frage: Inwiefern?

Hendrickx : In vielen Ländern, in denen Boko Haram aktiv ist, sind die Menschen unzufrieden mit der wirtschaftlichen Lage. Für die Jugend gibt es keine Perspektive. Das macht sie oft zur leichten Beute. Die Aussicht auf ein Kalifat oder ein neues politisches System, das auf einer radikalisierten Interpretation des Korans aufbaut, kann jemanden ansprechen, der frustriert ist. Die Vorgehensweise von Boko Haram ist in vielen Ländern ähnlich, sei es in Kamerun oder Nigeria: Boko Haram verspricht den Kindern und Jugendlichen neue Perspektiven und Sicherheit. Im Tschad zum Beispiel demonstrieren die Schüler und Schülerinnen sogar gerade wegen ihrer Perspektivlosigkeit.

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Frage: Was kann man tun, um zu verhindern, dass sich Kinder und Jugendliche Boko Haram anschließen?

Hendrickx: Ich habe viele Projektpartner besucht. Die machen eine gute Arbeit vor Ort. So gibt es zum Beispiel Plakatkampagnen, die an den Dialog zwischen Muslimen und Christen appellieren. Der Dialog zwischen den Religionen ist sehr wichtig, um eine Radikalisierung zu verhindern. Außerdem unterstützt Misereor in Kamerun die offizielle interreligiöse Organisation ACADIR (Association Camerounaise pour le Dialogue Interreligeux), die in christlichen, muslimischen und protestantischen Schulen tätig ist und Aufklärungsarbeit leistet. Auch arbeitet ACADIR als Schnittstelle von verschiedenen Jugendorganisationen, damit ein Netzwerk entstehen und Hilfe effektiver geleistet werden kann. Dabei ist egal, welcher Religion diese Jugendgruppen angehören. ACADIR  will erreichen, dass Gruppen unterschiedlicher Konfessionen zusammenarbeiten, um einen interreligiösen Dialog anzustoßen. Jede Religion will doch den Frieden. In jeder Religion gibt es Schätze für den Frieden.

Frage: Wie sehen Sie die Entwicklung im Tschad und in Kamerun? Geht es in eine positive Richtung oder verschärft sich die Situation weiter?

Hendrickx: Es ist ruhiger als früher durch den Einsatz der tschadischen Armee. Boko Haram ist geschwächt worden. Aber man muss auch berücksichtigen, dass dieser Konflikt kein rein regionaler Konflikt mehr ist, sondern Teil eines internationalen Konfliktes. Boko Haram ist bereits eine Allianz mit dem IS in Syrien und im Irak eingegangen und nennt sich selbst seit April 2015 „Islamischer Staat in West Afrika“ (ISWAP). Boko Haram ist Teilproblem eines weltweiten Konfliktes geworden. Was wir befürchten, ist eine intensive Kooperation von Boko Haram mit dem IS in Libyen. Das sind aber nach heutigem Stand nur Befürchtungen. Besiegt werden kann Boko Haram aber nicht nur militärisch, ein Dialog zwischen den einzelnen Parteien ist erforderlich. Auch unter den Kindern, den Jugendlichen, den Flüchtlingen.

Wichtig ist, dass die Wurzel der Krise angegangen wird. Die wirtschaftliche und politische Situation muss verbessert werden. Hier muss vor allem die Politik mehr tun als bisher. Kinder und Jugendliche müssen wieder eine Perspektive erhalten. Es darf keine verlorene Generation heranwachsen. Was mir Hoffnung macht ist, dass zumindest im Tschad und in Kamerun bei vielen Menschen ein Sinneswandel stattgefunden hat. Viele Familien haben verstanden, dass Boko Haram starke negative Konsequenzen in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht hat.

Das Interview führte Nina Brodbeck.

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Welttag gegen den Einsatz von Kindersoldaten

An diesem Freitag ist der internationale Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Nach den Worten des Bamberger Erzbischofs Ludwig Schick ist es ein „himmelschreiendes Verbrechen“, Kinder als Soldaten einzusetzen. Es müsse alles getan werden, um dies zu verhindern und die verzweifelte Lage der Kindersoldaten ins Bewusstsein zu bringen, erklärte der Vorsitzende der Weltkirche-Kommission der Deutschen Bischofskonferenz am Donnerstag in Bamberg. Schätzungen zufolge werden weltweit bis zu 300.000 Minderjährige als Soldaten missbraucht. „Diese Kinder zu schützen und den Verantwortlichen den Prozess zu machen, sollte der ganzen internationalen Menschengemeinschaft ein besonderes Anliegen sein“, sagte Schick. Die Tragweite dieses Verbrechens müsse in der ganzen Welt bekanntgemacht und vor allem geächtet werden. „Die internationale Politik sollte es noch öfter zur Sprache bringen.“ Anerkennend äußerte sich der Erzbischof über Organisationen, die ehemalige Kindersoldaten wieder in die Gesellschaft zu integrieren versuchen. Weltweit kämpfen den Angaben zufolge zahlreiche Hilfswerke gegen die Rekrutierung und den Einsatz von Kindern als Soldaten: das UN-Kinderhilfswerk, Amnesty International, Caritas international, das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ sowie das katholische Hilfswerk Missio. Am 12. Februar 2002 trat ein UN-Protokoll zur Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten in Kraft. (KNA)