Sicherheit ist nur Schein
Syrien ‐ Die Lage in Damaskus wirkt manchmal ganz normal. Doch immer wieder blitzt der Wahnsinn des Bürgerkriegs auf. Der Leiter von Caritas international, Oliver Müller, ist kürzlich aus der syrischen Hauptstadt zurückgekehrt. Im Interview berichtet er von der Lage im zerrütteten Land und den Caritas-Mitarbeitern vor Ort, die tagtäglich an ihre Grenzen gehen, um den Bedürftigen zu helfen.
Aktualisiert: 17.02.2016
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Die Lage in der syrischen Hauptstadt Damaskus wirkt manchmal ganz normal. Doch immer wieder blitzt der Wahnsinn des Konfliktes auf. Der Leiter von Caritas international, Oliver Müller, ist kürzlich aus dem Krisengebiet zurückgekehrt. Im Interview spricht er über seine Eindrücke und die Wege, wie man den Syrern in ihrem Land helfen kann.
Frage: Wie haben Sie sich gefühlt als Sie aus dem Libanon nach Syrien aufgebrochen sind?
Müller: An dem Tag, als wir in Beirut losgefahren sind, habe ich noch morgens im Radio die deutschen Pressestimmen gehört und da sagte jemand: „Wenn es einen Namen für die Hölle auf Erden gibt, dann ist es Syrien.“ Dieser Satz ging mir nahe, da er das Land unglaublich dämonisiert. Ich glaube diese Formulierung ist so nicht richtig, denn wo die Hölle ist, gibt es keine Hoffnung mehr.
Und das ist in Syrien trotz allem nicht der Fall. Eine große Anzahl von Menschen setzt sich immer noch für ein friedliches Ende des Konfliktes ein. Gleichzeitig muss ich sagen, dass man sich nicht ganz von den vielen negativen Bildern des Terrorismus, des Leids, des Todes, die mit dem Land und auch der Stadt Damaskus verbunden sind, lösen kann. Ein etwas mulmiges Gefühl hatte ich also schon. Die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien ist auch keine Grenze, wie man sie sich vielleicht vorstellt, sondern eine große Aneinanderreihung von Checkpoints. Man ist natürlich froh, wenn man diese hinter sich gebracht hat. Die eigentliche Einreise nach Syrien verlief dann völlig problemlos.
Frage: Wie haben sie die Lage in Syrien wahrgenommen?
Müller: Im Land selbst fühlt man den Druck, unter dem die Menschen stehen und die gedämpfte Stimmung. Paradoxerweise erscheint es einerseits, als herrsche ein normales Leben, andererseits spürt man, dass eben nichts normal ist. Wenn man etwas an der Oberfläche kratzt, dann merkt man, dass vieles nur noch Schein ist. In einem Stadtviertel, wo vor dem Krieg viele Ärzte angesiedelt waren, hängen beispielweise immer noch die Praxis-Schilder an den Gebäuden. Sie erinnern an eine längst vergangene Normalität. Die Ärzte, die dort praktiziert haben, sind längst nicht mehr da. Stattdessen gibt es eine Militarisierung des Alltags, die erschreckend ist. An jeder Ecke sieht man Checkpoints und Rekrutierungsplakate der Armee, auf denen martialische Kämpfer, Männer wie Frauen, zu sehen sind.
Dort ist dann zu lesen: „Folgt uns, kämpft für Syrien.“ Es gibt mittlerweile so viele unterschiedliche Gruppen, die proklamieren, für unterschiedlichste Ideen und Ziele zu kämpfen. Demgegenüber steht eine große Ernüchterung in der Bevölkerung. Ein anderer Faktor, der im Moment zu einer Verschlechterung der Lage beiträgt, ist der kalte Winter. In den noch bewohnbaren Häusern leben ganze Flüchtlingsfamilien auf engstem Raum zusammen, manchmal nur in einem einzelnen Zimmer. Die andauernde Kälte und die sehr eingeschränkten Heizmöglichkeiten gepaart mit der täglich drohenden Gefahr durch Granateinschläge macht das Leben für die Menschen extrem schwierig.
Frage: Wie können die Caritas-Partner in Syrien unter solchen Umständen noch arbeiten?
Müller: Was die Caritas-Arbeit in Syrien angeht, muss man sicherlich nach den verschiedenen Landesteilen, in denen wir agieren, unterscheiden. Es gibt sechs Regionalstellen der Caritas in Damaskus, Hasakah, Homs, Aleppo, Latakia und Horan. Im Großraum Damaskus kann die Caritas unter den bereits beschriebenen Gefahren unbehelligt arbeiten und frei agieren. Lebensmittel und andere Bedarfsgüter sind sogar auf dem Markt verfügbar. Wir helfen den Menschen dort mit einem Versorgungssystem, das mit Coupons arbeitet. Es gibt Rahmenvereinbarungen mit ausgewählten Läden in der Stadt, in denen Familien mit Caritas-Gutscheinen die Gebrauchsgüter kaufen können, die sie zum täglichen Leben brauchen. Das System hat sich bewährt. Es ist sehr einfach und effektiv und spart zudem die Verwaltungs-, Anschaffungs-, Transport- und Lagerkosten.
Frage: Was konnten Sie während Ihres Besuches über die Situation in Aleppo erfahren, wo erst vor kurzem tausende Menschen vor neuen Bombardierungen durch die syrische Armee und das russische Militär geflohen sind?
Müller: In Aleppo sieht es natürlich ganz anders aus als in Damaskus. Dort gibt es keine Lebensmittel und andere wichtige Bedarfsgüter mehr auf dem Markt. Sie müssen erst von der Caritas organisiert, transportiert und verteilt werden. Dabei setzen sich unsere Mitarbeiter vor Ort jedes Mal enorm hohen Gefahren aus. Ich war selbst drei Tage mit dem Präsident der Caritas Syrien, Bischof Antoine Audo aus Aleppo, unterwegs. Wenn er über die aktuelle Lage berichtet, dann staune ich, dass die Caritas in dieser Region überhaupt noch Hilfe leisten kann.
Das ist bewundernswert und übersteigt fast mein Vorstellungsvermögen. Es gibt tageweise keinen Strom – kein Licht, keinen Kühlschrank, keinen Computer. Es gibt zwar Dieselgeneratoren, aber deren Nutzung ist teuer und Kraftstoff nur bedingt verfügbar. Die Arbeitsbedingungen unserer Mitarbeiter sind extrem schwierig. Trotz allem erreicht die Hilfe der Caritas in Syrien immer noch viele tausend Menschen. Die Erfahrungen dieser Reise haben auch gezeigt, dass die Caritas vor Ort insgesamt so gut aufgestellt ist, dass wir unsere Hilfen weiter erhöhen können. Die Verhältnisse verlangen, dass die humanitäre Hilfe weiter intensiviert wird. Wir sind in diesem Zusammenhang natürlich auch weiterhin auf die Unterstützung unserer Spender und öffentliche Förderer wie das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angewiesen.
Frage: Erreicht Caritas international als christliche Organisation unter diesen erschwerten Umständen noch Bevölkerungsgruppen außerhalb der christlichen Gemeinden?
Müller: Ich konnte mich persönlich davon überzeugen, dass die Neutralität unserer Hilfe auch in Syrien gilt. Das bedeutet auch, dass wir versuchen allen Menschen zu helfen, die zu uns kommen. Der Großteil der Hilfen in Damaskus, das habe ich selbst gesehen, geht sicherlich an muslimische Familien, die auch die Mehrzahl der Bevölkerung bilden. Gleichwohl hilft die Caritas auch sehr vielen Christen. Für uns steht weder Herkunft noch Religion im Mittelpunkt, sondern die Bedürftigkeit der Menschen.
Von Stephanie Binder
© Caritas international