Indiens süßer Tod

Indiens süßer Tod

Weltgesundheitstag ‐ Alle sechs Sekunden stirbt ein Mensch an den Folgen von Diabetes. Längst hat das gerne auch als „Wohlstandskrankheit“ bezeichnete Leiden Schwellen- und Entwicklungsländer erobert - zum Beispiel Indien.

Erstellt: 07.04.2016
Aktualisiert: 04.01.2023
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Schon länger schlagen Mediziner Alarm. Bis 2040 werden laut Schätzungen von Experten weltweit 642 Millionen Menschen an Diabetes leiden. Einer von zehn Erwachsenen weltweit wäre dann von der Erkrankung betroffen, die den Zuckerstoffwechsel im Körper aus dem Gleichgewicht bringt und unbehandelt unter anderem zu schwersten Organschäden führen kann. Ein Blick auf die interaktive Weltkarte der in Brüssel ansässigen International Diabetes Federation (IDF) zeigt, dass zu den inzwischen leidlich bekannten „Hotspots“ wie den USA, Mexiko oder Russland inzwischen eine Reihe von Entwicklungs- und Schwellenländern gestoßen sind.

Darauf machen auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen zum Weltgesundheitstag am heutigen Donnerstag aufmerksam, der in diesem Jahr den Kampf gegen den „honigsüßen Durchfluss“ in den Mittelpunkt stellt. Neben China hat sich vor allem in Indien die Lage dramatisch gewandelt. Schon jetzt sind auf dem Subkontinent laut IDF rund 70 Millionen Menschen an Diabetes erkrankt. Auf der Suche nach Ursachen führen das katholische Hilfswerk Misereor und seine Partnerorganisation PEHCHAN veränderte Lebens- und Ernährungsgewohnheiten ins Feld.

Das „Maggi-Konzept“

Die Helfer nennen es das „Maggi-Konzept“. Große Lebensmittelkonzerne fluten Indien mit kohlehydratreichen und dazu preiswerten Nahrungsmitteln, die oft den Keim für die Krankheit legen. Auf das Angebot greifen gerade die ärmeren Bevölkerungsschichten in den Städten zurück. „Derzeit kostet ein Kilo Tomaten etwa 40 Cent, ein Päckchen Instant-Nudeln keine 13 Cent“, rechnet der Mediziner Sameer Valsangkar von der Catholic Health Association of India (CHAI) vor. Die Krankheit habe alle sozialen Schranken übersprungen. „Jeder, den ich heute treffe, hat mindestens ein Familienmitglied mit Diabetes.“

Valsangkars deutscher Kollege Markus Menzen gibt allerdings zu bedenken, dass auch in traditionellen indischen Gerichten mitunter viele Zuckerstoffe stecken. Der Endokrinologe und Leiter des Diabetes- Zentrums im Bonner Haus St. Petrus vermutet hinter dem rasanten Anstieg in Indien eher einen Mix aus falscher Ernährung und mangelnder Bewegung sowie möglicherweise eine genetische Prädisposition der Bevölkerung in Indien, die eine Ausbreitung von Diabetes beschleunigt. Letzteres sei wissenschaftlich noch nicht erwiesen. Auch für Menzen steht jedoch außer Frage, dass Diabetes ein „immenses Problem“ für den Subkontinent darstellt, verbunden mit „enormen sozioökonomischen Kosten“.

Bild: © Privat

Experten befürchten Kosten in Milliardenhöhe

Chronische und nicht übertragbare Erkrankungen wie Diabetes werden in Indien bis 2030 mit umgerechnet mehr als 2,6 Milliarden Euro zu Buche schlagen, befürchtet Thriveni Beerenahally vom Institute of Public Health in Bangalore. Das sei 35 Mal so viel wie die jährlichen Ausgaben für das Gesundheitssystem. Bereits jetzt klagen die Experten der Misereor-Partnerorganisationen über Mängel gerade bei der Versorgung von Patienten aus einem sozial schwachen Umfeld. Bei vielen bleibe die Krankheit lange Zeit unerkannt; jeder dritte Erkrankte bleibt nach Schätzungen der IDF unentdeckt. „Sie erblinden früher oder später, verlieren Gliedmaße oder werden nierenkrank“, sagt CHAI-Vertreter Valsangkar. Männer „in ihren produktivsten Jahren“ seien nicht mehr arbeitsfähig.

Zusätzliche Belastungen für den Staat, der offenbar gegensteuern will. Der Oberste Gerichtshof in Delhi mahnte bereits im vergangenen Jahr, die Ausgabe von Junk Food an Schulen müsse deutlich eingeschränkt werden. Behörden sollen Richtlinien für eine ausgewogenere Ernährung erarbeiten, Lebensmittelampeln in den Schulkantinen zu gesunder Ernährung anhalten. Ferner ist ein Werbeverbot für Pizza, Burger und Süßigkeiten im unmittelbaren Umfeld von Schulen im Gespräch. Künftig dürften auch Reformen im Gesundheitswesen unumgänglich sein.

Immerhin: Die Mediziner auf dem Subkontinent sind zunehmend sensibilisiert. Bis vor wenigen Jahren hätten die Teilnehmer von internationalen Diabetes-Kongressen mit einem Fähnchen einen der Staaten Europas oder Nordamerikas markiert, wenn sie nach ihrer Herkunft befragt wurden, erinnert sich Markus Menzen. „Inzwischen stecken die meisten Pins bei China und Indien.“

Von Joachim Heinz (KNA)

© KNA

Diabetes in Zahlen

Der Weltgesundheitstag stellt in diesem Jahr den Kampf gegen Diabetes in den Mittelpunkt. Die Stoffwechselerkrankung betrifft immer mehr Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) hat einige Zahlen zusammengestellt. 2 - Dafür, dass sich „Diabetes mellitus“ weltweit rasant ausbreitet, wird vor allem der Diabetes vom Typ 2 verantwortlich gemacht. In Deutschland leiden 90 Prozent der sechs Millionen Betroffenen an Typ-2-Diabetes. 4 - Seit 1980 hat sich die Zahl der Diabetes-Erkrankungen vervierfacht. 6 - Alle sechs Sekunden stirbt ein Mensch an den Folgen von Diabetes. 24 - Zwischen 2000 und 2009 sind in Deutschland die direkten Kosten, die durch Diabetes und die Folgekrankheiten entstehen, inflationsbereinigt um 24 Prozent auf 48 Milliarden Euro gestiegen. 48 - In 48 Staaten leben mehr als eine Million Menschen mit Diabetes. Dazu zählen Deutschland, die USA oder Saudi-Arabien, aber auch Schwellen- und Entwicklungsländer wie Mexiko und Indien. Die meisten Diabetespatienten wird 2040 China mit über 150 Millionen Betroffenen haben. 50.000 - Allein in der Bundesrepublik werden jährlich rund 50.000 Füße als Folge einer Diabeteserkrankung amputiert; laut Angaben von Experten liegt Deutschland damit international über dem Durchschnitt. 1.200.000 - In Entwicklungsländern sterben jedes Jahr rund 1,2 Millionen Menschen an Diabetes. Das sind etwa 80 Prozent aller Diabetes-Todesopfer weltweit. 642.000.000 - Bis 2040 werden laut Schätzungen von Experten weltweit 642 Millionen Menschen an Diabetes leiden. Einer von zehn Erwachsenen wäre dann von der Erkrankung betroffen. (KNA)