Indiens „Unberührbare“: Unterste Kaste an der Spitze des Staates
Indien ‐ Indiens neuer Staatspräsident wird von ganz unten im Kastensystem kommen: Beide Kandidaten bei der Wahl sind Dalits - früher „Unberührbare“ genannt. Die gesellschaftliche Stellung dieser Gruppe wird dadurch aber nicht unbedingt besser.
Aktualisiert: 04.01.2023
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Indiens neuer Staatspräsident wird von ganz unten im Kastensystem kommen: Beide Kandidaten bei der Wahl sind Dalits - früher „Unberührbare“ genannt. Die gesellschaftliche Stellung dieser Gruppe wird dadurch aber nicht unbedingt besser.
Den Dalits in Shabbirpur ist es herzlich egal, dass Indiens nächstes Staatsoberhaupt wie sie von der niedrigsten Stufe des Kastensystems stammen wird. Die früher als „Unberührbare“ geltenden Bewohner des staubigen nordindischen Dorfes stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Spannungen mit Angehörigen der höheren Thakur-Kaste, die die Mehrheit in dem 3.000-Seelen-Ort stellen, eskalierten vor einigen Wochen. Ein Thakur-Mob brannte rund 50 Häuser der Dalits nieder und tötete einen Jugendlichen.
Angriffe auf Dalits sind in Indien keine Seltenheit. Daran wird nach Ansicht der Menschen in Shabbirpur auch ein Dalit-Staatschef nichts ändern. Indiens Parlamentarier hatten am Montag bei der Wahl des neuen Staatspräsidenten zwei Dalits zur Wahl – die Regierungspartei BJP und die Opposition traten beide mit einem Dalit an.
„Die Parteien versuchen nur, sich bei den Dalits einzuschmeicheln, um unsere Stimmen bei den nächsten Wahlen zu bekommen“, meint der 61-jährige Shivraj in Shabbirpur. „Wird der neue Präsident überhaupt die Macht haben, Gräueltaten gegen Dalits zu stoppen? Es ist ja nur ein zeremonieller Posten, wichtig ist die Politik der Regierung.“
Das indische Staatsoberhaupt erfüllt, ähnlich wie der deutsche Bundespräsident, vor allem repräsentative Aufgaben. Die Macht liegt beim Premierminister.
Indiens gesellschaftliche Hierarchie nach dem etwa 3.000 Jahre alten hinduistischen Kastensystem hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Art Lockerung erfahren. Die Verfassung von 1950 sieht ein System der positiven Diskriminierung für benachteiligte Gruppen vor. Die rund 200 Millionen Dalits werden heute nicht mehr „Unberührbare“ genannt, wohl aber immer noch diskriminiert. Ihnen wird weiter der Zutritt zu Tempeln oder das Trinken aus gemeinschaftlichen Brunnen verboten.
Noch heute haben die meisten Dalits kein Land und üben vor allem körperliche Arbeit aus. Viele sind Müllsammler.
Es gibt aber auch Dalits, die es weit gebracht haben. Dazu gehören die zwei Präsidentschaftskandidaten: der Regierungschef des Bundesstaates Bihar, Ram Nath Kovind von der BJP und die Kandidatin der Oppositionsparteien, Meira Kumar, eine frühere Diplomatin und Parlamentspräsidentin. Der als „Vater der indischen Verfassung“ verehrte Bimrao Remdschi Ambedkar war ebenfalls Dalit.
Auch Chandra Bhan Prasad hat sich als Dalit-Intellektueller einen Namen gemacht. Der Journalist und Aktivist engagiert sich in der Dalit-Indischen Industrie- und Handelskammer und verkauft neuerdings im Internet von Dalits produzierte Lebensmittel. „Das Kastensystem hat Tausende Jahre Bestand gehabt, weil soziale Kennzeichen die Existenz der Menschen bestimmten“, erzählt er der Deutschen Presse-Agentur. „Heute überwiegen im Kapitalismus materielle Kennzeichen.“ So sei eine Dalit-Mittelschicht erwachsen.
„Legen Sie eine gefährliche Schlange auf einen glatten Boden, und sie verliert ihre Kraft, da sie das nicht kennt.“
Das sei vor allem ein Phänomen der Städte, erklärt Prasad. „Legen Sie eine gefährliche Schlange auf einen glatten Boden, und sie verliert ihre Kraft, da sie das nicht kennt. Ebenso kommen Kasten in Städten durcheinander.“
Der Nachfolger des amtierenden Präsidenten Pranab Mukherjee wird von den insgesamt knapp 5.000 Abgeordneten der Parlamente des Landes und der Bundesstaaten gewählt. Egal wie es ausgeht, wird Indien seinen zweiten Dalit-Präsidenten nach K.R. Narayanan, der das Amt von 1997 bis 2002 innehatte, bekommen.
Für Prasad ist das vergleichbar mit einem etwaigen zweiten schwarzen US-Präsidenten nach Barack Obama. Dass erstmals zwei Dalits gegeneinander antreten, sieht er als politisches Kalkül. Kovind, der Kandidat der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP, stamme aus einer kleinen Unterkaste namens Kori. Es gehe darum, die deutlich größere Unterkaste der Chamar auszustechen. Diese habe das Kastensystem immer abgelehnt und sei zum Buddhismus übergetreten.
Die Partei wolle die Stimmen der anderen Dalits abgreifen und sich mit ihrem Dalit-Kandidaten zudem als fortschrittlich darstellen. „Die BJP hat sich entschieden, die Gemeinde zu spalten“, erklärt Prasad. „Und die Opposition ist in diese Falle getappt, indem sie eine Chamar-Kandidatin aufgestellt hat.“
Für die Dalits in Shabbirpur sind die Politik in Neu Delhi und das Großstadtleben weit weg von ihrem Alltag. „Sie kamen mit Schwertern und Eisenstangen bewaffnet am helllichten Tag, haben uns geschlagen und unsere Häuser angezündet“, erzählt Dal Singh vom Angriff des Mobs. Sein Haus ist ein einziger Trümmerhaufen mit verstreuten, ramponierten Möbeln. „Die Täter laufen noch immer frei herum.“
Trotzdem kommt auch in dem Ort im Bundesstaat Uttar Pradesh bei den Dalits Selbstbewusstsein auf. Die jüngere Generation ist gebildet und will sich gegen die Unterdrückung wehren. „Früher durften wir höheren Kasten nicht in die Augen schauen“, erzählt der Mittzwanziger Srikanth, der in Shabbirpur einen Holzhandwerk-Betrieb hat. „Jetzt, da wir aufsteigen und uns bilden, begegnen wir ihnen auf Augenhöhe. Sie können es nicht ertragen, ihre Vorherrschaft zu verlieren.“ Er fügt hinzu: „Sie müssen sich aber daran gewöhnen.“
Von Nick Kaiser und Siddhartha Kumar, dpa
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