Eine Welt jenseits der nuklearen Abschreckung
Atomwaffen ‐ In diesen Tagen jähren sich die Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. In der Reihe der „Zwischenrufe im Wahljahr 2017“ analysiert der emeritierte Professor Dr. Heinz-Günther Stobbe die durch Weiterverbreitung von Kernwaffen und die Modernisierung der Potenziale wachsenden Gefahren.
Aktualisiert: 14.02.2023
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In diesen Tagen jähren sich die Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. In der Reihe der „Zwischenrufe im Wahljahr 2017“ analysiert der emeritierte Professor Dr. Heinz-Günther Stobbe die durch Weiterverbreitung von Kernwaffen und die Modernisierung der Potenziale wachsenden Gefahren.
Am 16. Juli 1945 um 5.29 Uhr Ortszeit wurde in New Mexiko die erste Atombombe gezündet. Es war eine Plutonium-Implosionsbombe mit der Sprengkraft von 21 Kilotonnen TNT und sie trug, wie der gesamte Test der neuen Waffe, den denkwürdigen Namen "Trinity". Bereits knapp einen Monat später, am 6. August 1945, wurde „Little Boy“ über Hiroshima abgeworfen und tötete innerhalb von Sekunden mindestens 90.000 Menschen. Drei Tage später starben noch einmal mindestens 50.000 Menschen durch „Fat Man“. Die Zahl der Strahlenopfer, die zusätzlich in den Jahren und Jahrzehnten nach Kriegsende zu beklagen waren, wird auf etwa 300.000 geschätzt.
Seit dieser Zeit hat sich dem Bewusstsein der Menschheit das Bild des aufsteigenden und sich ausbreitenden Atompilzes unauslöschlich eingeprägt, danach zigfach überlagert und verstärkt durch den Anblick weiterer, noch weitaus gewaltigerer Testexplosionen, mehr als 2.000 bis 2013. Die sowjetische Wasserstoffbombe „Zar“, gezündet im Jahr 1961, besaß eine Sprengkraft von mehr als 50 Megatonnen TNT, dagegen nahm sich „Little Boy“ mit fast 15 Kilotonnen beinahe wie ein „Baby“ aus, fast das 4.000-Fache kleiner. Manche Bombentests hinterließen riesige Krater und verstrahlte Landschaften sowie unbewohnbare Inseln. Der Atompilz wurde zum schaurig-schönen Symbol des 20. Jahrhunderts, zum Menetekel der drohenden Selbstvernichtung der Menschheit.
Vom ersten Moment an stand den Beobachtern der Explosion diese Möglichkeit buchstäblich vor Augen: „Wir wussten“, erinnert sich J. R. Oppenheimer, einer der „Väter“ der Bombe, zwanzig Jahre danach an die Situation, „dass die Welt nicht mehr dieselbe sein würde. Manche lachten, manche weinten. Die meisten schwiegen.“ Er selbst will an die Worte Vishnus in der Bhagavad Gita gedacht haben: „Nun bin ich der Tod geworden, der alles raubt, Erschütterer der Welten.“
Am atomaren Abgrund
Der Abwurf der ersten beiden Atombomben auf bewohnte Städte war Teil des Kriegsgeschehens im Pazifik und wurde mit dem Argument gerechtfertigt, er habe eine noch größere Zahl von Toten vermieden, die bei einer Landung der US-Armee in Japan umgekommen wären. Dessen Stichhaltigkeit war bereits im Kreis der Physiker des Manhattan-Projekts umstritten, je näher sie dem Erfolg ihrer Arbeit und dem Einsatz der Bombe kamen. Nach dem Ende des Krieges jedoch traf es auf keinen Fall mehr zu. Die atomare Aufrüstung in West und Ost vollzog sich im Rahmen des Kalten Krieges, dessen Umschlag in einen heißen Krieg die nukleare Abschreckung verhindern sollte. Das ist tatsächlich gelungen, der Große Krieg blieb aus, aber der Dritte Weltkrieg spielte sich, was die Zahl der Opfer betrifft, unterhalb der nuklearen Schwelle in Gestalt vieler kleinerer Kriege oder Konflikte ab. Mehrfach stand die Welt dabei am atomaren Abgrund, so etwa im Korea-Krieg oder während der Kuba-Krise, Unfälle mit Atomwaffen oder technische Fehler in den Überwachungssystemen nicht eingerechnet.
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verfügten die beiden Supermächte USA und Sowjetunion insgesamt über fast 90.000 atomare Sprengköpfe, China, Großbritannien und Frankreich zusammen über mehr als tausend. Nach 1989 wurde diese Zahl dank nuklearer Abrüstung deutlich verringert, doch das Zerstörungspotential reichte immer noch, um den Planeten Erde in eine menschenleere, lebensfeindliche Wüstenei zu verwandeln. Daran hat sich bis heute nichts geändert: 2015 besitzen die USA über 7.000 Sprengköpfe, Russland etwa 7.500, die übrigen Atommächte über 1.000. Noch immer also lebt die Menschheit im „Schatten der Atombombe“ (G. Kennan).
Die Welt geteilt in nukleare „haves“ und „have-nots“
Nach 1945 suchten die USA das Geheimnis der Bombe eifersüchtig zu hüten, doch vergebens. Bald zog die UdSSR nach und im Laufe der Zeit kamen weitere Staaten hinzu: Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea. Längst ist das Monopol der Supermächte gebrochen, die Welt geteilt in nukleare „haves“ und „have-nots“, wobei manche der Habenichtse hartnäckig den Besitz von Nuklearwaffen anstreben. An Sicherheit hat die Völkergemeinschaft dadurch nicht gewonnen. Die atomare Rüstung hinterlässt Unmengen von nuklearem Material, dessen Kontrolle immer schwieriger wird. Noch hat es keinen Fall von Nuklearterrorismus gegeben, aber eine „schmutzige Bombe“ herzustellen ist weitaus leichter als die Produktion einer militärisch nutzbaren Kernwaffe. Dagegen hilft keine nukleare Abschreckung, die im Gegenteil das Problem der sicheren Entsorgung spaltbaren Materials, das auch bei der zivilen Nutzung der Kernkraft ungelöst ist, beträchtlich verschärft.
Der unbestreitbare Abbau von Kernwaffen, den man leicht als Beweis eines ernsthaften Willens zur atomaren Abrüstung verstehen könnte, wurde jedoch ausgeglichen durch einen weltweiten Modernisierungsschub und die Entwicklung neuer Waffensysteme. Die Modernisierung betrifft auch die in Deutschland (Büchel) gelagerten 20 Atomwaffen vom Typ B61, eine Fliegerbombe, die im Ernstfall im Rahmen der sogenannten Nuklearen Teilhabe von Flugzeugen der Bundeswehr transportiert und abgeworfen würde. Die geplante Version B61-12 soll durch ein neues Leitwerk präziser treffen können und deshalb mit kleineren Gefechtsköpfen ausgestattet werden.
Alle Programme und Maßnahmen lassen nur einen einzigen Schluss zu: Die Atommächte denken nicht daran, das System der nuklearen Abschreckung abzuschaffen, sie arbeiten eher darauf hin, den Einsatz von Atomwaffen zu erleichtern. Sie setzen das Spiel mit dem nuklearen Feuer unbeirrt fort, ungeachtet der Risiken, Gefahren und immensen Kosten der atomaren Rüstung (allein in den USA eine Billion Dollar nur für die beschlossenen Modernisierungsmaßnahmen). An die Bedingung ernsthafter Anstrengungen zur Überwindung des Abschreckungssystems haben die deutschen Bischöfe bereits vor nunmehr drei Jahrzehnten die befristete moralische Akzeptanz dieser Strategie geknüpft. Es ist an der Zeit zu prüfen, ob diese Frist abgelaufen ist.
Wissenschaft und Zivilgesellschaft gegen Atomwaffen
Protest und Widerstand haben die Strategie der nuklearen Abschreckung von Anfang an begleitet, zuerst getragen von Physikern wie Leo Szilard und Albert Einstein. Zumal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat er eine lange Tradition, öffentlichkeitswirksam beginnend mit der öffentlichen Erklärung der „Göttinger 18“ von 1957, erneut eine Gruppe von Atomphysikern (u. a. Werner Heisenberg und Carl F. von Weizsäcker), 1958 gefolgt von der Anti-Atomtod-Kampagne der SPD und dem ersten Ostermarsch im Jahr 1960. Sämtliche Initiativen gegen die Atomwaffen scheiterten, der "Krefelder Appell" mit vier Millionen Unterschriften ebenso wie die Massendemonstration im Bonner Hofgarten mit 300.000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen im Oktober 1980. Gegenwärtig findet die atomare Rüstung kaum noch ein öffentliches Echo, aber abseits der breiten Öffentlichkeit formierte sich in den letzten Jahren eine neue Bewegung, die darauf abzielt, die Atomwaffen völkerrechtlich zu ächten. 2009 erklärte US-Präsident Obama in Prag eine atomwaffenfreie Welt zum Ziel seiner Politik, die in einem ersten Schritt zum New-Start-Abkommen führte, das 2011 in Kraft trat und die Vertragspartner USA und Russland zu einer drastischen Reduzierung des Atomwaffenarsenals auf je 1.500 Sprengköpfe verpflichtet.
Mittlerweile hat sich der Wind in der internationalen Politik erneut gedreht, nicht zuletzt im Zusammenhang des Ukraine-Konflikts. Sogar deutsche Atomwaffen werden gefordert. Die Bundesregierung hält sich zurück, betont immer wieder, sich für atomare Abrüstung einzusetzen, hat sich aber, wie alle NATO-Staaten, an den Bemühungen um einen Bann der Atomwaffen nicht beteiligt, da Deutschland keine Atomwaffen besitze. Doch das ist in Anbetracht der nuklearen Teilhabe lediglich moralische Augenwischerei aufgrund außen- und sicherheitspolitischer Rücksichtnahme. Im Kontrast dazu kommt es darauf an, die Atomwaffen wieder zu einem innenpolitischen Thema zu machen. Es ist ein schwer verständlicher und auf Dauer nicht hinnehmbarer Widerspruch, dass biologische und chemische Massenvernichtungswaffen völkerrechtlich verboten sind, nicht aber die nuklearen Kampfmittel. Es ist schwer nachzuvollziehen, mit welchem Recht einige Staaten für sich das Recht beanspruchen, Atomwaffen zu besitzen, allen anderen Staaten aber dieses Recht verweigern. Der atomare Status quo zementiert lediglich ein machtpolitisches Gefälle, das entweder durch eine für alle gültige Ächtung der Atomwaffen ausgeglichen wird oder aber einen beständigen Faktor politischer und militärischer Instabilität darstellt.
Kirche gegen Atomwaffen
Die päpstliche Diplomatie hat sich kontinuierlich für nukleare Rüstungsbegrenzung, Abrüstung und das Verbot von Atomwaffen eingesetzt, vor allem auch für einen Nichtverbreitungsvertrag. In der päpstlichen Lehrverkündigung, nicht zuletzt in den Ansprachen der Päpste vor den Vereinten Nationen, wird die Thematik immer wieder angesprochen, mahnend und drängend, warnend und fordernd, aber ohne eine grundsätzliche moralische Verurteilung der atomaren Abschreckung. Am weitesten hat sich dabei Papst Franziskus vorgewagt. In seiner Rede vor der UN-Mitgliederversammlung im November 2015 sagte er, die immer gegenwärtige Tendenz zur Verbreitung von Massenvernichtungswaffen stehe in „starkem Kontrast“ zu den Aussagen im ersten Artikel der UN-Charta „und verleugnet sie in der Praxis. Eine Ethik und ein Recht, die auf der Bedrohung gegenseitiger Zerstörung – und möglicherweise der Zerstörung der gesamten Menschheit – beruhen, sind widersprüchlich und stellen einen Betrug am gesamten Gefüge der Vereinten Nationen dar.“ Der Papst zieht daraus den Schluss: „Man muss sich für eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen, indem man den Nichtverbreitungsvertrag dem Buchstaben und dem Geiste nach gänzlich zur Anwendung bringt bis zu einem völligen Verbot dieser Instrumente.“ Folgerichtig hat der Papst die UN-Konferenz zu Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot Ende März 2017 mit Nachdruck unterstützt.
Es fehlt also nicht an einer klaren Richtungsanzeige auf dem Weg zu einer vom Albtraum der nuklearen Abschreckung befreiten Welt. Unsere Kirche(n) in Deutschland sollte(n) sich in die Bewegung einreihen, die dieses Ziel anstrebt, und die Bundesregierung auffordern, ihre bisherige Haltung freundlicher Distanzierung aufzugeben und sich ebenfalls anzuschließen. Niemand sollte sich dabei Illusionen hingeben, denn der politische Widerstand gegen diese Bewegung ist machtvoll, hartnäckig und einfallsreich. Es braucht einen langen demokratischen Atem, um ihn zu überwinden. Aber gerade die Kirche darf das nicht entmutigen.
Von Heinz-Günther Stobbe
Heinz-Günther Stobbe war Professor für theologische Friedensforschung an der Universität Siegen. Er ist Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax, dort Moderator des Sachbereichs Frieden und Leiter der Arbeitsgruppe „Gerechter Friede“.
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