60 Jahre Misereor
Hilfswerke ‐ Seit 60 Jahren setzt sich das Hilfswerk Misereor für Menschen ein, denen ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit verwehrt ist. Und die Arbeit wird eher mehr als weniger.
Aktualisiert: 17.08.2018
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Seit 60 Jahren setzt sich das Hilfswerk Misereor für Menschen ein, denen ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit verwehrt ist. Und die Arbeit wird eher mehr als weniger.
„Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Armen“ – mit diesem Leitwort überschrieb das Bischöfliche Hilfswerk Misereor 2008 seine Kampagne zum 50-jährigen Bestehen. Dieses Motto gilt auch ein Jahrzehnt später, uneingeschränkt. Seit vor 60 Jahren der Kölner Kardinal Josef Frings mit einer programmatischen Rede den Startschuss für eines der erfolgreichsten Entwicklungsprojekte weltweit gab, steht Misereor den Notleidenden in den Ländern des Südens als Partner zur Seite. Nicht mit Almosen, sondern mit Hilfe zur Selbsthilfe. Mehr als 100.000 Projekte wurden seit 1958 gefördert.
Als in den 50er Jahren der neue Wirtschaftswunderwohlstand in Deutschland spürbar war, stellte der Kölner Kardinal Josef Frings (1887-1978) die zentrale Frage, die zur Gründung von Misereor führte: Was können wir gegen Ungerechtigkeit und ungleiche Lebenschancen in der Welt tun? Mit einer programmatischen Rede vor den deutschen Bischöfen gab Frings Mitte August 1958 in Fulda den Startschuss für ein „Abenteuer im Heiligen Geiste“.
Misereor entstand nicht am Grünen Tisch; es gab damals keine Vorbilder. In der Zeit des Kalten Krieges, des ausgehenden Kolonialismus in Afrika und der aufziehenden Militärdiktaturen in vielen Ländern des Südens war der Aufbau des Werks Pionierarbeit unter schwierigsten Startbedingungen.
Partnerschaftliche Strukturen mit den Ortskirchen mussten erst geknüpft und entwickelt werden. Die Hilfe von Misereor, so wollten es Frings und die Bischofskonferenz, sollte unabhängig von der Religionszugehörigkeit sein. Nicht „katholisches Geld nur für Katholiken“, Hilfe nur für Christen. Das Armutskriterium sollte das einzige Kriterium sein. Das gilt bis heute.
Ein früherer Misereor-Slogan lautete: „Gib einem Hungernden einen Fisch, und er kann sich einen Tag satt essen – aber lehre ihn angeln, dann kann er ein ganzes Leben lang satt werden“. Dieses klassische Motto der „Hilfe zur Selbsthilfe“ hat das Werk mit den Jahrzehnten weiterentwickelt. Zu seinen Projekten gehören immer auch politische Bildung und Menschenrechtsarbeit: Förderung von Frauenrechten, Demokratisierung, Kampf gegen Kinderprostitution und den Einsatz von Kindersoldaten, Aufklärungskampagnen gegen Seuchen und Epidemien, Ressourcenschonung und Umweltschutz, Rechtsbeistand für Flüchtlinge und Landlose.
Den wohl aufsehenerregendsten Einsatz Misereors für die Menschenrechte und eine gerechtere Welt gab es 1983. Unter dem Motto „Ich will ein Mensch sein“ prangerte das Hilfswerk während der Fastenaktion das Apartheid-Regime und den Rassismus in Südafrika an. Eine Diskussion über die Rolle christlicher Hilfswerke entbrannte.
Misereor setzt auf Dialog: Die Ortskirchen sind füreinander verantwortlich und helfen einander. In diesem Sinn ist auch die materielle Hilfe des Nordens keine Einbahnstraße. Wo etwa der reiche Norden ratlos vor der Zusammenlegung von Gemeinden zu Großpfarreien steht, können die Ortskirchen des Südens ihre positiven Erfahrungen einbringen. Die sogenannten Basisgemeinden als Kirche vor Ort – eine Zwischenstruktur, die angesichts des Priestermangels als ein Modell auch hier diskutiert werden könnte.
Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel sieht auch Deutschland „in mancherlei Hinsicht“ als ein Entwicklungsland, etwa „was die Verlagerung der Kosten für unsere Lebensweise auf andere Nationen und Menschen betrifft“. Soziale und ökologische Kosten würden verschleiert und „Lasten auf andere Staaten im globalen Süden abgewälzt“. Entwicklungszusammenarbeit, so Spiegel, könne „nur dann wirksam sein, wenn sie auch uns selbst einschließt“.
Misereor ist in 60 Jahren zum Vorbild für andere, auch nichtkirchliche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit geworden. Freilich hat sich die Welt in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder rasant verändert. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ etwa und die dramatische Flüchtlingskrise haben zu einer Verzerrung der Weltsicht geführt. Alle reden über Sicherheit für den Norden. Dabei sind es gerade die Ärmsten, die ständig in der größten aller Unsicherheiten leben müssen: der Angst um die nackte Existenz. Vor diesem Horizont geht Misereor in seine nächsten 60 Jahre. Die Arbeitsfelder sind nicht weniger geworden – im Gegenteil.