Äthiopien: Das Land mit der Bundeslade
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Äthiopien: Das Land mit der Bundeslade

Äthiopien ‐ Äthiopien ist seit einer großen Hungersnot in den 1970er Jahren bis heute im europäischen Gedächtnis mit dem Thema Armut verbunden. Doch das heutige afrikanische „Boomland“ hat auch eine große christliche Tradition - und will im Besitz der sagenumwobenen Bundeslade sein.

Erstellt: 30.04.2019
Aktualisiert: 27.07.2022
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Das ostafrikanische Äthiopien ist seit einer großen Hungersnot in den 1970er Jahren bis heute im europäischen Gedächtnis mit dem Thema Armut verbunden. Doch das heutige afrikanische „Boomland“ hat auch eine große christliche Tradition - und behauptet sogar, im Besitz der sagenumwobenen Bundeslade zu sein.

Wer die äthiopische Stadt Aksum besucht, stößt dort auf einen Ort, der auch einem Indiana-Jones-Film entspringen könnte: Denn in der ehemaligen Hauptstadt des aksumitischen Kaiserreichs (ca. 100-940 n. Chr.) steht eine kleine Kapelle, in der sich die sagenumwobene Bundeslade befinden soll. Laut der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche, der größten Religionsgemeinschaft des Landes, kam die Truhe mit den Mosaischen Gesetzestafeln – den Zehn Geboten – bereits vor über 3.000 Jahren ins heutige Äthiopien. Zu sehen ist sie aber nicht. Für niemanden: Kein Besucher, kein Gläubiger, kein Priester, nicht einmal der höchste Würdenträger der Kirche bekommt das sagenumwobene Artefakt jemals zu Gesicht. Das hat seinen Grund: Denn schon eine Berührung mit ihr kann, so sagt es die Legende, den Tod bringen. Nur ein einziger Mensch kommt der Bundeslade deshalb nahe: der sogenannte „Wächter“. Ein Mönch, der die Lade jederzeit bewacht, vor ihr betet und zur Ehre Gottes regelmäßig Weihrauch aufsteigen lässt. Er wird mit dieser Aufgabe für sein ganzes Leben betraut und darf das Gelände um die Kapelle nach seiner Ernennung nie wieder verlassen – wie wiederum niemand von außen es betreten darf.

Doch die Legende um die Bundeslade ist nicht die einzige Besonderheit der  äthiopischen Kirche. Sie ist auch die einzige Kirche Afrikas, die nicht von europäischen Missionaren gegründet wurde, sondern bereits im 4. Jahrhundert aus Syrien ins Land kam. Dadurch ist hier vieles für europäische Christen ungewohnt: So betrachten sich die Gläubigen dort als „Judenchristen“, die sich viele Bräuche und Riten aus dem Judentum bewahrt haben. Sie leben koscher, Jungen werden beschnitten und Frauen dürfen während der Regel keine Kirchen betreten. Auch den Sabbat halten sie ein.

Eine Gemeinschaft von Judenchristen

In den Kirchengebäuden ist das jüdische Erbe ebenfalls präsent: Im Allerheiligsten liegt der sogenannte „Tabot“, eine Platte, die die zehn Gebote symbolisiert. An Festtagen wird diese Platte in bunte Tücher gehüllt und der Priester trägt sie auf seinem Kopf in einer Prozession umher. Bei diesen Prozessionen bestimmen bunte zeremonielle Sonnenschirme und Priestergewänder in vielen Farben das Bild. Zudem spielt in der äthiopischen Liturgie der Gesang eine zentrale Rolle. Denn die in Altäthiopisch gehaltenen Texte und Gebete werden vom Priester und der Gemeinde vor allem gesungen statt gesprochen. Begleitet werden die Gesänge von Flöten, Trommeln und sakramentalen Tänzen. Für diese feierlichen Gottesdienste gibt es viele Anlässe, denn die äthiopische Kirche kennt unzählige Feiertage, die sich zum Teil monatlich wiederholen – ein Alleinstellungsmerkmal. Dazu kommen jährlich fast 200 Fasttage, an denen keine tierischen Produkte und bis mindestens mittags überhaupt nichts gegessen werden darf.

Bekannt ist auch das äthiopische Mönchtum: Menschen pilgern lange Strecken, um sich von in extremer Askese lebenden Einsiedlern segnen zu lassen, die zum Teil schon der Nimbus eines Heiligen umgibt. Dazu kommen zahllose Klöster, in denen mancherorts jahrhundertealte Handschriften aufbewahrt werden. Sie zählen zu den ältesten christlichen Zeugnissen der Welt. Beschrieben wird vor allem ein großer Schatz an Legenden, der für das äthiopische Christentum typisch ist.

In dem Land, das als Wiege der Menschheit gilt, spielt Religion bis heute im Leben der Menschen eine sehr große Rolle: Das Christentum wurde bereits im Jahr 332 durch den Übertritt des aksumitischen Königs Staatsreligion – und blieb es bis 1974. Damit war das heutige Äthiopien nach Armenien das zweite christliche Land der Welt. Christen- und Kaisertum gingen lange Zeit Hand in Hand. Das führte zum Teil zu beeindruckenden architektonischen Zeugnissen: Im 12. und 13. Jahrhundert ließ König Lalibela in der Stadt, die später seinen Namen tragen sollte, elf Kirchen in riesige Basaltlavafelsen meißeln. Sie sind heute die Hauptattraktion des Landes und werden auch das „achte Weltwunder“ genannt.

Christen und Muslime leben seit Jahrhunderten beieinander

Doch die Christen blieben nicht lange allein: Noch zu Lebzeiten des Propheten Mohammed (570-632 n. Chr.) kamen Muslime ins Land, die aus Mekka vertrieben worden waren. Der damalige König gewährte ihnen Unterschlupf. In den nächsten Jahrhunderten breitete sich der Islam in der Region aus, bis Äthiopien ausschließlich von muslimischen Ländern umgeben war.

Im Zusammenleben gab und gibt es immer wieder auch Konflikte: So entbrannte etwa im 16. Jahrhundert ein Krieg zwischen Muslimen und Christen. Am Ende setzten sich die Christen zwar durch, doch das Verhältnis zwischen den Religionen war dauerhaft zerrüttet. Seit dieser Zeit herrscht zum Teil bis heute Misstrauen. Außerdem fühlten sich die Muslime durch die enge Verbindung der orthodoxen Kirche mit dem Kaisertum lange Zeit marginalisiert. Nicht zuletzt deshalb engagierten sich viele Muslime am Putsch, der 1974 nach der weltweit wahrgenommenen Hungersnot zur Absetzung und schließlich zur Ermordung von Kaiser Haile Selassi führte. Die anschließende sozialistische Militärdiktatur unter dem Militärrat „Derg“ schaffte die Staatskirche ab und gewährte offiziell Religionsfreiheit.

Heute stellen die Mitglieder der orthodoxen Kirche die größte Glaubensgemeinschaft Äthiopiens, sie machen einen Bevölkerungsanteil von über 43 Prozent (2017) aus. Mit etwas Abstand folgen die sunnitischen Muslime (knapp 34 Prozent), Protestanten (gut 19 Prozent), Anhänger traditioneller Religionen und ein verschwindend kleiner Anteil Katholiken. Das Land ist föderal organisiert und die regionale Gliederung richtet sich nach den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und deren Religion.

Zwischenfälle zwischen den religiösen Gruppen kommen heute nur noch vereinzelt vor und äußern sich eher in Animositäten, zum Beispiel über Streitigkeiten beim Bau neuer Gotteshäuser. Zur Koordination und zum Austausch zwischen den Gemeinschaften wurde ein „Rat der Religionen“ begründet. Dessen Einfluss ist zwar begrenzt, Beobachter sehen aber bei allen Glaubensgemeinschaften eine Bereitschaft zur Toleranz. Der Missio-Länderbericht hält deshalb fest: „Insgesamt ist die große Bevölkerungsmehrheit aber auf ein friedliches Zusammenleben aller Gruppen bedacht.“

Von Christoph Paul Hartmann, katholisch.de

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