Libanons Ministerpräsident plant Rücktritt
Libanon ‐ Dreizehn Tage warteten die Demonstranten im Libanon auf diesen Moment. Mit Ministerpräsident Hariri hat der erste politische Führer seinen Rücktritt angeboten. Der Anfang ist gemacht, sagt das Volk und fordert weitere Köpfe.
Aktualisiert: 17.02.2023
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Dreizehn Tage warteten die Demonstranten im Libanon auf diesen Moment. Mit Ministerpräsident Hariri hat der erste politische Führer seinen Rücktritt angeboten. Der Anfang ist gemacht, sagt das Volk und fordert weitere Köpfe.
Zwölf Tage forderten Libanesen im ganzen Land friedlich den Rücktritt ihrer politischen Führung. Der 13. Tag der Proteste brachte am Dienstag Zusammenstöße, Gewalt – und eine überraschende Wende: Ministerpräsident Saad Hariri reichte Staatspräsident Michel Aoun sein Rücktrittsgesuch ein. Für die Tausenden in den Straßen ist es ein erster Teilerfolg.
Tagelang glichen die Demonstrationen in der Beiruter Innenstadt einem Volksfest. Libanesische Flaggen in den Händen oder gleich den ganzen Körper in die rot-weiße Zedernfahne gehüllt, blockierten die Menschen Straßen und lauschten Musik und Reden auf den Bühnen der zentralen Kundgebungsorte. Sie forderten in Sprechchören ein Ende der Korruption und debattierten in kleinen Runden über die Lage des Landes. Wie Gezeiten ebbten Menge und Lärm über Nacht ab, um am nächsten Morgen wieder stetig anzuschwellen. Der harte Kern harrte auch nachts in improvisierten Zeltstädten auf dem Märtyrerplatz aus.
Dann kam der verflixte 13. Tag. Hunderte Gegner des Volksaufstands – Augenzeugen und Medien zufolge Anhänger der schiitischen Amal-Bewegung sowie der Hisbollah – attackierten die Demonstranten auf der Ringstraße in der Innenstadt, rissen und brannten die Zelte nieder.
„Wir waren in die Ecke gedrängt, zwischen uns und denen eine Mauer aus Soldaten und Polizei“, sagt Michaela (22). „Pure Provokation“, sagen Joelle (39) und Mario (26), nicht ohne ein gewisses Mitleid mit den Angreifern: „Unsere Gegner fühlten sich unter Druck, deshalb haben sie ihre ideologisierten Truppen geschickt.“ Für einen langen Moment liegt die Spannung der bisher so friedlichen Proteste in der Luft wie das Tränengas, mit dem die Einsatzkräfte die Menge auf dem Märtyrerplatz auseinandertreiben. Mindestens elf Personen mussten laut dem libanesischen Roten Kreuz in Krankenhäusern behandelt werden.
Um 16 Uhr dann der Triumph: Ministerpräsident Saad Hariri erklärt, er mache sich auf den Weg zu Präsident Aoun, das Rücktrittsgesuch in der Tasche. Noch ist der Schock über die Zusammenstöße das Hauptthema der Versammelten, aber immer trotziger wird Jubel laut in den Straßen, die sich erneut in ein libanesisches Fahnenmeer verwandeln. „Vorsichtig optimistisch“ beschreibt Michaela die Stimmung. Der Rücktritt Hariris sei „ein erster, aber ein riesiger erster Schritt – er zeigt, dass wir hier nicht unsere Zeit verschwenden.“ „Heute haben wir etwas erreicht“, sagen auch Joelle und Mario.
Doch nicht nur der Kopf Hariris soll rollen. „Killun, yaani, killun – alle, das heißt: alle“, fordern die Demonstranten auf den Straßen Beiruts in Sprechchören. Die gesamte Regierung müsse gehen. Aus den aufgeschichteten Stangen der niedergerissenen Zelte haben einige ein Mahnmal improvisiert. Die libanesische Fahne weht auf seiner Spitze im Abendwind. „Jetzt oder nie“, heißt Marios Devise, „wenn wir jetzt aufgeben, haben wir verloren“. „Wir bleiben bis auf weitere Nachricht“, ergänzt ein Freund, der seinen Namen nicht geschrieben sehen will, „nicht aus Angst, sondern weil unsere Anliegen kollektive Ideen sind – was spielt es da für eine Rolle, wer sie ausgesprochen hat?“
Nicht orchestriert und doch ein Kollektiv: die Beschreibung trifft den Ton der Versammelten. „Keiner hat uns gesagt, dass wir kommen müssen“, beschreibt ein älterer Mann, der wie sein deutlich jüngerer Mitstreiter seinen Namen für irrelevant für die Geschichte hält: „Wir sind hier, weil das bestehende System seit 30 Jahren nichts für die Menschen geleistet hat.“
Das alte System muss weg, sind sich die Jungen und der Alte einig. „Die Menschen brauchen die Veränderung, und sie selber müssen sich ändern“, formuliert es Michaela. Auch wenn sie es für unwahrscheinlich halte, dass das volle Ziel innerhalb des nächsten Jahres erreicht werden könne: „Der Wandel hat angefangen. Wir sehen einander nicht mehr zuerst als Sunniten oder Schiiten, sondern nehmen uns als Libanesen wahr. Es ist dieses neue Zugehörigkeitsgefühl, das etwas verändert hat.“
Was als Reaktion auf angekündigte Steuererhöhungen begann, entwickelte sich über zwei Wochen zu einem kraftvollen Erwachen eines libanesischen Nationalsinns. Folgerichtig zitierte Hariri bei seiner Rücktrittsankündigung seinen ermordeten Vater mit den Worten, „keiner sei größer als sein Land“. Die heutige Verantwortung liege darin, Wege zu suchen, den Libanon zu schützen und die Wirtschaft wiederzubeleben, erklärte Hariri und machte den ersten Schritt: „Es gibt eine ernsthafte Chance, die nicht vergeben werden sollte, und ich stelle meinen Rücktritt in die Disposition des Präsidenten und aller Libanesen.“