„Ein Samenkorn, das langsam keimt“

„Ein Samenkorn, das langsam keimt“

Brasilien ‐ In der Hoffnung auf Arbeit und eine bessere Gesundheitsversorgung stranden viele Indigenen am Rande der Amazonas-Metropole Manaus. Schwester Paulina unterstützt sie dabei, ihre Kultur zu leben und eine eigene Identität zwischen Stadt und Tradition zu finden.

Erstellt: 11.12.2021
Aktualisiert: 02.12.2021
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Sonntagmorgen. 30 Indigene haben sich unter dem Wellblechdach der kleinen katholischen Kirche von Kulina Madiha versammelt. Das Gebäude in einer Armensiedlung am Stadtrand von Manaus wurde aus Holzstreben und Kunststoffverkleidungen zusammengezimmert, der Boden besteht aus gestampfter Erde, das Licht fällt durch große Öffnungen herein. Über dem Altar steht in großen Lettern: „Mathia Inuka Tupana Ipanaliku“. In der Sprache des indigenen Volkes der Kokama heißt das: „Willkommen im Haus Gottes!“

Im Gottesdienst wird viel gesungen, begleitet von traditionellen Instrumenten. Einer, der seine Rasseln klingen lässt, ist Fortunato Lima da Silva, der „Vize-Kazike“ von Kulina Madiha. Er ist so etwas wie der stellvertretende Bürgermeister der Siedlung.

Der 53-Jährige kommt tief aus dem Inneren Amazoniens. „Meine Heimat liegt mehrere Tagesreisen entfernt“, erzählt er, „in der Nähe der Grenze zu Kolumbien“. Seine Geschichte ist typisch für die Indigenen, die heute in Manaus leben, meist an der armen Peripherie, am Rande der Gesellschaft. Ihre Zahl wird auf 40.000 geschätzt. Die Kirche versucht, ihnen eine neue Heimat zu geben.

Fortunato Lima da Silva kam nach Manaus, weil seine Frau unter Arthritis litt und sein Sohn Epileptiker ist. „Wir waren auf der Suche nach medizinischer Hilfe, die in Amazonien sehr rar ist“, erzählt er nach dem Gottesdienst. Er hoffte sie in der Großstadt mit ihren 2,3 Millionen Einwohnern zu finden. Hier gibt es große Hospitäler und viele Ärzte. 

„Ohne ihre Kultur verlieren viele Indigene den Halt“

So wie er bleiben viele der Indigenen dann; sie suchen sich Arbeit oder erhalten Sozialhilfe und lassen sich nieder. Sie werden zu Gestrandeten der Großstadt, fühlen sich weder in Manaus heimisch noch können sie zurück in ihre weit entfernten Dörfer. „Ich würde lieber in unserem indigenen Dorf leben“, meint Fortunato Lima da Silva. „Aber in Manaus gibt es Gesundheit und Bildung.“

Schwester Paulina Parez kümmert sich um Familien, wie die von Fortunato Lima da Silva. In Kulina Madiha finden Gottesdienste in indigenen Sprachen statt. Die Kirche bietet Raum, um die ursprüngliche Kultur zu praktizieren, etwa um traditionelle Tänze zu proben. „Ohne ihre Kultur verlieren viele Indigene den Halt. Sie wissen dann nicht mehr, wer sie sind, und werden anfällig für Alkohol, Drogen und Gewalt“, erklärt die 55-jährige Schwester Paulina, die aus Kolumbien stammt.

Die Gemeinde Kulina Madiha war ursprünglich als eine Art Kompromiss zwischen indigenem Leben und dem Leben der Großstadt gedacht. Hier ließen sich Menschen unterschiedlicher indigener Völker nieder. Auf dem Areal, so haben es archäologische Funde bestätigt, lebten schon vor langer Zeit Indigene, weshalb es nach dem Gesetz eigentlich als Reservat ausgewiesen werden müsste. 

Die Realität schreitet voran

Aber der Anerkennungsprozess ist komplex und zieht sich hin. Die Realität schreitet schneller voran. Die Indigenen, die in Kulina Madiha lange in der Mehrheit waren, stellen heute nur noch 320 der rund 900 Familien. „Einst stand hier dichter Wald“, erinnert sich Fortunato Lima da Silva. Heute hingegen sieht man Hunderte kleine Häuser aus Holz, Ziegeln und Wellblech, die auf dem sandigen Boden errichtet wurden. Die Bäume sind längst abgeholzt.

Es gibt in Kulina Madiha heute kleine Geschäfte mit Getränken, Süßigkeiten und Konserven. Berge von Abfall stapeln sich am Straßenrand, weil die Müllabfuhr nicht in die Siedlung kommt. Doch am verheerendsten: Das Drogenkartell Comando Vermelho hat sich in Kulina Madiha etabliert.

Nach dem Gottesdienst trifft sich Vize-Kazike Fortunato mit Schwester Paulina und dem Kaziken Raymon Ferreira. Als Symbol für die Verschmelzung von Tradition und Moderne trägt dieser einen imposanten Schmuck aus Arafedern zu Jeans und Turnschuhen. Raymon Ferreira hat einen gefährlichen Job: Zwei seiner Vorgänger wurden ermordet, weil sie das Comando Vermelho nicht dulden wollten, dessen Erkennungszeichen, C. V., wie zur Warnung an einige Gartenzäune gesprüht wurde „Der Staat schützt vielleicht die indigenen Völker in den Reservaten“, sagt Ferreira, „aber wir werden allein gelassen. Deswegen ist es wichtig, dass die Kirche uns hilft, unsere Kultur, Tradition und Geschichte zu bewahren. Sie sind eine Art Immunabwehr gegen die Dinge, die unserer Gemeinde schaden.“

Bild: © Florian Kopp/Adveniat

Weitermachen

Die beiden Kaziken und Schwester Paulina kommen zu einem Haus, vor dem ein Garten mit Heilkräutern angelegt wurde. Hier wachsen Melisse, Myrrhe, Pfefferminze, Zitronengras, Rosmarin und vieles mehr. In dem Haus lebt die 16-jährige Tuliana Silva do Carmo mit ihrer Familie. Vor drei Jahren kam sie nach Kulina Madiha. Die junge Frau gehört dem Volk der Kumaruara an und ist eines der aktivsten Mitglieder der indigenen Jugendgruppe in der Kirche. „Viele Brasilianer glauben, dass die indigene Kultur nichts wert sei, und viele Ureinwohner fürchten sich aus Angst vor Vorurteilen, ihre Kultur zu zeigen“, sagt die selbstbewusste junge Frau, die an der Kasse eines Supermarkts arbeitet. Viele Brasilianer hielten die ursprünglichen Völker des Landes für faul und zurückgeblieben, erzählt sie. Auch Brasiliens Präsident, Jair Bolsonaro, behauptet das. Besonders die Indigenen in den Städten leiden darunter, weil ihnen die Gemeinschaft fehlt, die ihnen Kraft und Selbstvertrauen gibt.

Die von der Familien-Pastoral unterstützte Jugendgruppe von Tuliana nennt sich „Kanata Kuema“, „Morgendämmerung“. „Viele kennen ihre Kultur nicht mehr“, erzählt Tuliana. „Sie ist vom Aussterben bedroht. Aber wir merken, dass sich immer mehr Jugendliche für unsere Aktivitäten interessieren.“

Dazu gehören beispielsweise das Einstudieren traditioneller indigener Tänze, die auf Festen präsentiert werden, und die traditionellen Bemalungen im Gesicht, am Hals und auf den Armen. Ebenso versuchen die Indigenen, ihre Sprachen zu bewahren und zu sprechen, weil sie sonst im Alltag nur Portugiesisch reden. „Die Familien-Pastoral und Schwester Paulina ermutigen uns, weiterzumachen“, sagt Tuliana. „Sie machen uns Mut, unseren Weg weiterzugehen, uns nicht beirren zu lassen. Wenn ich unsere Kultur praktiziere, fühle ich mich Gott näher.“

Die beiden Kaziken von Kulina Madiha nicken. Es sei schlimm, wenn ein Indigener seine Wurzeln verliere, ist Raymon Ferreira überzeugt. Er habe dann keinen Halt mehr und werde wie ein Blatt im Sturm herumgewirbelt. „Zum Glück gibt es Jugendliche wie Tuliana.“ Schwester Paulina stimmt ihm zu. „Die Jugendlichen haben einen Samen gepflanzt, der nun langsam keimt.“

Von Philipp Lichterbeck

© Adveniat