Zukunft in Chile – trotz Handicap

Zukunft in Chile – trotz Handicap

Puerto Montt ‐ In Chile werden Kinder und Jugendliche mit geistiger oder körperlicher Behinderung kaum unterstützt. Nur wenige Einrichtungen bieten eine schulische oder berufliche Förderung an. Die von den Salesianern geführte Laura Vicuña Schule in Puerto Montt bildet eine Ausnahme: Junge Menschen mit Handicap werden hier gefördert, ausgebildet und in den Arbeitsmarkt integriert. So haben Kinder mit Handicap und ihre Familien Chancen auf eine bessere Zukunft.

Erstellt: 21.01.2022
Aktualisiert: 19.10.2022
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In Chile werden Kinder und Jugendliche mit geistiger oder körperlicher Behinderung kaum unterstützt. Nur wenige Einrichtungen bieten eine schulische oder berufliche Förderung an. Die von den Salesianern geführte Laura Vicuña Schule in Puerto Montt bildet eine Ausnahme: Junge Menschen mit Handicap werden hier gefördert, ausgebildet und in den Arbeitsmarkt integriert. So haben Kinder mit Handicap und ihre Familien Chancen auf eine bessere Zukunft.

Wenn Tomás* aus der Schule kommt, steht das Mittagessen schon auf dem Tisch. Sein Vater hat alles vorbereitet und leistet seinem Sohn beim Essen gerne Gesellschaft. José Villanueva lebt mit Tomás in einer Wellblechhütte in einem Armenviertel der Hafenstadt Puerto Montt im Süden Chiles. Beide schlafen und essen in einem Raum, der immer sauber und aufgeräumt ist. Darauf legt der 39-Jährige José viel Wert. Eine Heizung gibt es nicht, die Wände sind mit Eierkartons isoliert. Denn die Winter hier können unangenehm kalt und nass werden.

Vater und Sohn haben ein inniges Verhältnis und verbringen viel Zeit miteinander. José zieht seinen Sohn, der eine leichte geistige Behinderung und Lernbeeinträchtigung hat, alleine groß. Die Mutter verließ die beiden als Tomás gerade mal zwei Jahre alt war. Sie hatte einen anderen Mann kennengelernt, mit dem sie ein neues Leben beginnen wollte. Ihren Sohn hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Trotz Besuchsregeln hat sie lieber darauf verzichtet. Bei Tomás Geburt wurden erst keine Beeinträchtigungen festgestellt. Erst später, als er mit vier Jahren in den Kindergarten kam, wurde José mitgeteilt, dass sein Sohn Lernprobleme habe und besser in eine Sonderschule gehen solle. 

Finanzielle Unterstützung vom Staat oder seiner Familie erhielt José während der letzten 15 Jahre keine. „Glücklicherweise gab es Engel auf unserem Weg“, sagt der Vater zufrieden. Zu diesen Engeln zählen für ihn auch die Salesianer. Seitdem sein Junge fünf Jahre alt ist, geht er jeden Tag von 9.00 bis 13.00 Uhr in die „Laura Vicuña” Schule. Dort werden junge Menschen bis 26 Jahre mit einer geistigen und körperlichen Behinderung schulisch und beruflich gefördert.

„Tomás hat große Fortschritte gemacht, seit er regelmäßig zu uns kommt. Die schulische Förderung ist für diese Kinder sehr wichtig, vor allem aber auch das Aufbauen von Vertrauen“, betont Johanna Gómez, Schulleiterin und Sonderschullehrerin. Seit mehr als zehn Jahren ist sie an der Laura Vincuña-Schule. 

In Chile sind rund 75 Prozent der arbeitsfähigen Menschen mit Behinderung arbeitslos

Bild: © Tamara Merino/Don Bosco Mission Bonn/Fairpicture

Tomás‘ Vater José kann das nur bestätigen: „Er ist aufgeschlossener geworden und kann sich besser artikulieren. Das Lernen fällt ihm deutlich leichter“. Er, der selbst eine leichte geistige Beeinträchtigung hat, wurde als Kind nie schulisch gefördert. Das bedauert er bis heute sehr.

Seit 1996 fördert und begleitet die Schule Laura Vicuña junge Menschen mit Handicap. Für ihr Bildungsangebot erhielt die Einrichtung im Jahr 2016/17 vom nationalen Bildungsministerium das Qualitätszertifikat „Excelencia Académica”.

„Die Kinder und Jugendlichen unserer Schule kommen aus armen Familien. Viele sind indigener Herkunft und werden gesellschaftlich ausgegrenzt“, so Schulleiterin Gomez. Uns ist es wichtig, ihnen Zukunftschancen zu schaffen, durch eine solide Berufsausbildung und Integration in die Arbeitswelt.“ Die Salesianer arbeiten hierzu eng mit Unternehmen zusammen. Durch Praktika sollen die Schülerinnen und Schüler erste Berufserfahrungen sammeln. „Praktika erhöhen zudem die Chancen auf einen Arbeitsplatz“, erklärt die Sonderschullehrerin. 

In der Schule werden Koch-, Back- und Handarbeitskurse angeboten. In Sportkursen wird die psychomotorische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gefördert. Zudem gibt es Musiktherapien und logopädische Unterstützung. Auch der Umgang mit dem Computer wird den Schüler*innen vermittelt.

In Chile sind rund 75 Prozent der arbeitsfähigen Menschen mit Behinderung arbeitslos. Für entsprechende Förderung gibt es in dem südamerikanischen Land nur wenige Einrichtungen, obwohl laut dem Zensus 2012 rund 12,9 Prozent der chilenischen Bevölkerung eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben.

Der 17-Jährige Tomás ist eher schüchtern und introvertiert. Im Unterricht hört er aufmerksam und interessiert zu. Immer noch ist es schwer für ihn, deutlich zu sprechen und sich klar auszudrücken. „Oft ist er einfach nervös und verhaspelt sich deshalb beim Sprechen“, erklärt José. Das sei aber mit der Zeit besser geworden. Die Schule habe ihm geholfen, seine Unsicherheit etwas zu überwinden. „Tomás hat mittlerweile gelernt, in vollständigen Sätzen zu sprechen und sich flüssiger auszudrücken. Er kann jetzt auch handwerklich arbeiten und sich mit anderen Kindern austauschen“, sagt sein Vater sichtlich stolz. 

Bild: © Tamara Merino/Don Bosco Mission Bonn/Fairpicture

Nach dem Mittagessen verbringt Tomás viele Stunden am Handy. Seinen einzigen Freund aus der Schule darf er wegen Corona nach dem Unterricht nicht mehr sehen. Die Isolation durch die Pandemie hat ihn verunsichert und Ängste hervorgerufen. Seinen Vater treibt vor allem die Sorge um, sein Sohn könnte sich mit dem Corona-Virus anstecken.

Die Eltern von Fernanda* haben sich deshalb entschieden, ihre Tochter gar nicht mehr in die Schule zu schicken.  Sie halten die Gefahr für zu groß, dass ihre Tochter, die mit einem Down Syndrom zur Welt kam, sich mit dem Virus infizieren könnte. Seit zwei Jahren nimmt Fernanda nun nicht mehr am Präsenzunterricht teil. Online-Unterricht ist für Fernanda keine wirkliche Alternative, sie nimmt nur ungern daran teil – wegen der Konzentration. Lieber schaut sich die 14-Jährige Musikvideos auf ihrem Handy an oder sieht fern. Die Eltern haben deshalb beschlossen, ihre Tochter im kommenden Schuljahr wieder zur Schule zu schicken.

José sorgt sich derweil um die Zukunft seines Jungen. „Wer wird sich um ihn kümmern, wenn ich nicht mehr da bin? Ich bin alles, was er hat, und ich kann ihm nicht einmal Geld hinterlassen, damit er sich selbst versorgen kann, wenn ich nicht mehr da bin.“ Zurzeit versucht der 39-Jährige ein staatliches Fertighaus zu erhalten. 1.500 US-Dollar muss er dafür bezahlen, bisher hat er mit Mühe gerade einmal 1.000 US-Dollar beisammen. José hat kein geregeltes Einkommen, sondern sichert das Überleben seiner kleinen Familie mit Gelegenheitsjobs. Wenn sein Sohn vormittags in der Schule ist, putzt er Häuser oder verkauft Eier auf dem Markt. Von dem Geld kann er Lebensmittel kaufen und die Kosten für die Wohnung bezahlen. Zum Sparen bleibt nicht viel.

Die Laura Vicuña-Schule

Die Laura Vicuña-Schule fördert Kinder und Jugendliche mit Handicap und strebt ihre Inklusion in den Arbeitsmarkt an. Die Schülerinnen und Schüler sind zwischen fünf und 26 Jahre alt. Die meisten Jungen und Mädchen stammen aus einkommensschwachen Familien, mit indigenem Hintergrund. Das Förderprogramm umfasst berufsbildende Kurse in den Bereichen Kochen, Backen und Handarbeiten, Musiktherapie, Sport, Computerschulungen und Schulunterricht.

Auch die Eltern von Fernanda machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Tochter. „Meine größte Angst ist, dass Fernanda kein Geld zum Leben hat, wenn wir sterben”, betont Fernandas Vater. Ich versuche deshalb so viel Geld für sie zu sparen, wie möglich.  Damit sie später ein gutes und menschenwürdiges Leben führen kann.“ Der jüngere Bruder wird sich wohl später um seine Schwester kümmern müssen. Der 13-Jährige liebt seine Schwester, aber ist sich auch der großen Verantwortung bewusst.

José hofft, dass er das restliche Geld für das Haus noch zusammen bekommt. Er zeigt sich optimistisch: „Mein Sohn soll wenigstens ein warmes Zuhause haben und ein würdevolles Leben führen können. Das ist alles, was für mich zählt!“ 

* Name geändert

Text: Kirsten Prestin

© Don Bosco Missio Bonn