Frage: Was würde aber ein Sieg Russlands für die Ukraine bedeuten?
Marynowytsch: In den ersten Tagen haben wir uns allein gefühlt in diesem Krieg. Da gab es eine Art Sorge, was mit der Ukraine passiert. Aber jetzt, wenn wir sehen, die Welt ist auf unserer Seite, da sind wir sicher. Wir versuchen nicht erst zu analysieren, was passiert, wenn Putin gewinnt. Als ich im sowjetischen Gefängnis Ende der 1970er saß, war Breschnews Regime auf dem Höhepunkt seiner Macht. Aber wir haben den Geruch des Todes des Regimes gespürt. Wir waren sehr sicher, dass das Regime kollabiert, und es passierte 1991. Jetzt sagt Putin, seine Armee ist die zweitgrößte der Welt. Aber ich rieche wieder den Geruch des Todes seines Regimes. Also male ich mir nicht seinen Sieg aus. Ich spürte damals wie heute die Agonie.
Frage: Der Krieg gegen die Ukraine scheint die Ukrainer vereinigt zu haben. Gilt das auch für die Kirchen im Land?
Marynowytsch: Die beiden Maidan-Revolutionen haben einen großen Unterschied gemacht. Die Kirchen versuchen, die Nation zu unterstützen und setzen sich für die Menschenrechte ein. Wir Kirchen [die katholische und die orthodoxe Kirche des eigenständigen Kiewer Patriarchats, Anm.] kamen uns näher und arbeiten zusammen. Ich will nicht übertreiben, denn kanonisch ist es schwer, zusammenzukommen zwischen den Hierarchen. Aber zwischen den Menschen gibt es einen großen Willen zur Zusammenarbeit. Die Moskauer Kirche ist aber in einer schwierigen Lage. Sie hat sich an den russischen Präsidenten gewandt, um den Krieg zu beenden. Etwas, was der Patriarch nicht wollte. Aber es war wichtig, dass die Kirche das selbst entschieden hat. Der Krieg wird auch zu Veränderungen in der geochristlichen Dimension führen. Sie werden dramatisch sein und zu einem Verlust der Mitglieder der orthodoxen Moskauer Kirche führen.
Frage: Welche Rolle schreiben Sie den Kirchen in der Konfliktschlichtung zwischen Moskau und Kiew zu?
Marynowytsch: Der Vatikan ist ermutigt durch die Geschichte der Mediation zwischen der Sowjetunion und der USA während der Kubakrise. Damals hat Rom gute Arbeit geleistet, und vielleicht kann es jetzt die gleiche Rolle spielen. Bloß hat es lange gedauert, bis der Vatikan etwa von Aggression oder Krieg sprach. Lange hat man vom Konflikt in der Ukraine gesprochen. Was die Ortskirchen angeht, so sind die politischen Akteure hier zu stark, als dass wir als Kirche etwas machen können. Die Rolle der Kirche wird nach dem Krieg wachsen, wenn es darum geht, die Gesellschaft und die Beziehungen der Menschen aufzubauen.