Frage: Ist dies der Hintergrund der Forderungen der Demonstranten nach einem kompletten Wechsel in der Führungsklasse?
Essayan: Definitiv! Es wäre naiv zu glauben, dass allein die angekündigten Steuern der Grund für den Volksaufstand waren.
Frage: Welche weiteren Gründe sehen Sie?
Essayan: Der Libanon ist ein Schlachtfeld internationaler Interessen, hier kreuzen sich Amerika, Saudi-Arabien, Israel auf der einen und Iran, Russland, Syrien und die Hisbollah auf der anderen Seite. Die Demonstrationen können von diesen Akteuren in diesem Sinne politisch genutzt werden.
Frage: Sehen Sie denn konkreten ausländischen Einfluss?
Essayan: Ich sehe ihn etwa in den Reden der Parteiführer. Und ob man will oder nicht: Revolutionen brauchen Geld, und von innen her gibt es dafür nicht genug. Die meisten Parteien sind vom Ausland finanziert, aber dafür erwarten sie natürlich Gegenleistungen. Der Libanon steht gewissermaßen im Sold dieser Länder, und eine Grundfrage wird es sein, ob wir es schaffen, ein unabhängiges Land zu werden oder ob wir nur die Herren austauschen. Schaffen wir ein Ende der Korruption?
Frage: Die Demonstranten fordern auch ein Ende des Konfessionalismus, wonach politische Ämter und Parlamentssitze nach einem genau festgelegten Proporz unter den Religionsgemeinschaften aufgeteilt werden.
Essayan: Die große Herausforderung ist, die religiöse und kulturelle Identität des Libanon zu erhalten und sich gleichzeitig einer gewissen Trennung von Religion und Staat zu öffnen. Zum Beispiel müssen wir eine Lösung finden für Menschen, die sich keiner der 18 Konfessionen zugehörig fühlen. Gleichzeitig müssen wir aber anerkennen, dass Religionen in einem so multireligiösen Land wie dem Libanon nun einmal eine politische Rolle spielen. Das Problem ist, dass wir Libanesen alle dieselben Pflichten haben, aber nicht dieselben Rechte. Wer kein Maronit ist, kann nicht Präsident werden. Das Wort Ministerium bedeutet Dienst – aber ab dem Moment, wo ein Ministerium nicht für alle zugänglich ist, wird es zur Macht.
Frage: Wie könnte eine Lösung aussehen?
Essayan: Das ist schwer zu sagen. Wenn man an einem Punkt ansetzt, besteht die Gefahr, das ganze Land in Brand zu setzen. Das bestehende System erlaubt es Christen und Muslimen immerhin, zusammen zu regieren. Daraus muss eine klare Vision für den Libanon entstehen.
Frage: Haben die Demonstranten eine solche Vision?
Essayan: Viele von ihnen schon, aber die Frage ist, ob sie damit die Identität des Landes bewahren können. Es braucht Weisheit, aber auch viel Vorsicht.
Frage: Sie haben ein „Sich-Einkaufen“ ausländischer Kräfte in den Libanon kritisiert. Wie kann die internationale Gemeinschaft dem Libanon effektiver helfen?
Essayan: Wenn die internationale Gemeinschaft oder ausländische NGOs dem Libanon helfen können, dann nur, wenn sie nicht mit vorgefertigten Programmen ins Land kommen, sondern nach unseren eigenen Bedürfnissen fragen. Nehmen wir das Beispiel der Flüchtlinge. Viele profitieren von den Flüchtlingen. Gleichzeitig haben viele Organisationen aufgehört, sich für arme Libanesen einzusetzen. Ich verstehe die Intentionen der Spender, aber es muss für die Konsequenzen sensibilisiert werden. Wenn es keine Lösung für Syrien und eine Rückkehr der Flüchtlinge geben wird, wird es zu mehr Gewalt kommen.