Was in jedem Winter ein Problem in Chicago darstellt, nimmt diesmal lebensbedrohliche Ausmaße an. Verantwortlich für die arktische Kälte ist der sogenannte Polarwirbel, der den US-Amerikanern seit Tagen zu schaffen macht. Vor allem der Mittlere Westen ist betroffen. Neben Chicago leiden auch andere Großstädte wie Detroit, Milwaukee und Minneapolis. Hinzu kommen die vielen kleinen, weitgehend unbekannten Orte, die sich gegenseitig mit Kälterekorden überbieten. Ohne die kirchlichen Wohlfahrtseinrichtungen wäre die Situation für die Obdachlosen noch verzweifelter.
Das „Freedom Center“ der Heilsarmee in Chicago hat schon seit Tagen durchgehend geöffnet. In dem Wärmelager stehen eigentlich nur 28 Betten bereit, Platz ist aber für 100, erklärt Leiterin Nancy Powers. Warme Mahlzeiten und Duschen gibt es auch. Doch eine Dauerbleibe ist das Heilsarmee-Zentrum nicht. Das betonen auch Richard und Mimi, die alle Überredungskünste aufbringen müssen, um die Skeptiker in der Zeltstadt zu überzeugen.
Auch katholische Hilfsorganisationen wie die Catholic Charities sind landesweit im Einsatz, im Kampf gegen den Kältetod. Richard und Mimi wissen, wie wichtig Freiwilligkeit bleibt: „Wir müssen den freien Willen akzeptieren.“ Selbst wenn es lebensmüde erscheint, auch nur eine Nacht draußen zu verbringen.
So wie bei Tony Neeley, der laut einem Bericht der „New York Times“ kürzlich an einer Straßenkreuzung im Zentrum Chicagos stand, um Geld von Passanten zu erbetteln – mit nassen Turnschuhen und bloßen Händen. Der Obdachlose hält nichts von Sammelunterkünften. Er sammelt lieber Geld, um sich für 45 Dollar ein Motelzimmer nehmen zu können.
Sollte es dafür nicht reichen, stehen neben den offiziell 60 sogenannten Wärmezentren der Stadt auch Busse bereit, in denen Tony Schutz suchen kann. Dass Obdachlose wie er selbst unter diesen lebensbedrohlichen Bedingungen ihren eigenen Kopf haben, müssen Mimi und Richard immer wieder erfahren. So lehnt es eine Frau aus einem der Zelte an der Roosevelt Road vehement ab, zusätzliche Winterkleidung anzunehmen. Aber Essen, das nehme sie gerne. „Gott segne dich“, ruft ihr Richard zu, als er ihr ein paar belegte Brote hineinreicht. Und durch die Kälte schallt es zurück: „Gott segne dich auch.“
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