Frage: Wie ist die aktuelle Lage im Friedensprozess zwischen der Regierung und den bewaffneten Gruppen der ethnischen Minderheiten? Im Bundesstaat Kachin nahe der chinesischen Grenze arbeiten Sie mit Ihrer Organisation „Airavati“ ja noch immer mit vielen der über 100.000 Binnenvertriebenen.
Seng Raw: Die Regierungsarmee dringt in Kachin weiter in die von der KIO (Kachin Independence Organisation) kontrollierten Gebiete vor, die Kämpfe dauern nach wie vor an – übrigens auch im nördlichen Shan-Staat. Überwachung, Verhaftungen oder Flucht … Ich will nicht sagen, dass die Menschen dort daran gewöhnt sind. Aber für viele Menschen ist dies das Leben, das sie kennen: Sie haben ihre Wurzeln und ihre Heimat verloren. Das größte Problem sind nach wie vor die Bildungsmöglichkeiten. Die Regierung hat bisher die Schulabschlüsse der Binnenvertriebenen in den Lagern in den KIO-kontrollierten Gebieten nicht anerkannt. Und mit der Mittleren Reife ist Schluss. Ein Hochschulbesuch ist in diesen Gebieten nicht möglich. Die jungen Menschen haben keine Zukunft und verlieren ihre Motivation. Es gibt viele Drogenabhängige in den Flüchtlingslagern, sexuelle und andere Gewalttaten. Die Entwicklung von Perspektiven für Jugendliche und Kinder wird in Zukunft eine große gesamtgesellschaftliche Herausforderung für Myanmar sein.
Frage: Welche Erwartungen richten Sie an die internationale Gemeinschaft und die EU?
Seng Raw: Myanmar öffnet sich langsam nach außen. Dabei ändert sich auch die Struktur in der internationalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit. Viele Institutionen und Organisationen kommen ins Land und bringen sich ein, doch sie nutzen weder lokale Strukturen, noch arbeiten sie mit lokalen Partnern oder der Bevölkerung zusammen – das ist fatal. Entwicklungsprogramme werden häufig außerhalb des Landes entwickelt und dann umgesetzt. Das ist keine nachhaltige Entwicklung. Wir wollen kein Land werden, in dem lokale Organisationen mit dem Wandel auch ihren Platz verlieren, wo die Stimme der Bevölkerung nicht gehört wird. Der Wandel in Myanmar muss aus der Gesellschaft heraus kommen, nicht von oben herab bestimmt werden.
Von Rebecca Struck (Misereor)
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