Sobrino: Diese Forderung ist drängend und aktuell. So verstehe ich auch die Aussage von
Papst Franziskus
, dass er „eine arme Kirche für die Armen“ wünscht. Bischof Pedro Casaldáliga aus Brasilien hat es so ausgedrückt: „Es gibt nur zwei Dinge, die absolut sind: Gott und der Hunger.“ Es gäbe die Möglichkeit, die Geißel des Hungers zu überwinden, doch es fehlt der politische Wille dazu. Deshalb sagt Jean Ziegler, der frühere Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung, dass jedes Kind, das auf dieser Erde an Hunger stirbt, ermordet wird.
Frage: Wenn Sie sich eine reiche Kirche wie die deutsche anschauen – kann man hier noch von der Option für die Armen sprechen?
Sobrino: Ich möchte nicht über die deutsche Kirche urteilen. Doch ich weiß, dass gerade die deutsche Kirche über Hilfswerke, wie
Adveniat
und
Misereor
, sehr solidarisch mit den Armen dieser Welt ist. Ich freue mich auch, wenn junge Theologiestudierende aus Deutschland zu uns nach El Salvador an unsere Universität kommen und Erfahrungen mit armen Gemeinden machen. Oft fühlen sie sich reich beschenkt. Solidarität ist für mich ein wechselseitiges Geben und Empfangen.
Frage: Kurz nach der Ernennung von Jorge Mario Bergoglio zum neuen Papst sagten Sie, seine einfache Kleidung und seine bescheidenen Gesten seien „kleine, aber deutliche Zeichen.“ Franziskus ist nun seit einem Jahr Oberhaupt der katholischen Kirche. Sind in dieser Zeit große Zeichen daraus geworden?
Sobrino: Die kleinen, aber deutlichen Zeichen haben sich vor allem mit einer neuen Atmosphäre, einer neuen Stimmung in der Kirche verbunden. Man kann heute freier denken und reden als früher. Doch mir ist wichtig, dass wir dem Papst nicht nur in der Haltung von Zuschauern begegnen, die applaudieren oder pfeifen. Sehr viel wichtiger ist, dass wir seinem Beispiel praktisch folgen und uns für Flüchtlinge einsetzen, für gerechtere Strukturen im Welthandel und so weiter.
Frage: Wie hat der Papst aus Argentinien das Gesicht der Weltkirche verändert?
Sobrino: Er hat durch seine Person, seine Zeichen und seine Verlautbarungen das Thema der Barmherzigkeit und des Mitleids von Gott her sehr viel stärker betont. Als Lateinamerikaner hat er einen weniger eurozentrischen Blickwinkel. Ich habe insgesamt den Eindruck, dass er die Kirche wieder auf die wesentlichen Themen des Evangeliums lenkt: Gottes bedingungslose Liebe für diese Welt, die Barmherzigkeit Jesu gegenüber den Armen und den Kleinen, sein Kampf gegen die todbringenden Götzen der Macht und des Geldes und seine Bereitschaft, sein Leben hinzugeben.
Das Interview führte Lena Kretschmann.