Kirchen könnten Vorbildfunktion haben
Kirchen könnten den Missbrauchsschutz behinderter Menschen prägen, sagt der in Rom tätige Experte Hans Zollner. Doch vor allem bei den Meldewegen hakt es noch. Und auch Inklusion ist in weiten Teilen der Welt kaum Thema.
Aktualisiert: 24.06.2024
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Menschen mit Behinderung sind einem größeren Risiko ausgesetzt, missbraucht zu werden. Für ihren Schutz könnten die Kirchen ein Vorbild sein, sagt der Anti-Missbrauchs-Experte und Jesuit Hans Zollner im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) anlässlich einer Konferenz der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Zollner ist Leiter des dortigen Instituts zum Schutz vor Missbrauch (IADC). Besonderen Verbesserungsbedarf sieht er bei den Meldewegen von Missbrauch durch behinderte Menschen selbst, ebenso bei der Inklusion im Allgemeinen. In manchen Teilen der Welt gilt eine Behinderung noch immer als eine „Strafe Gottes“.
Frage: Pater Zollner, Sie haben den diesjährigen Fokus der Anti-Missbrauchs-Konferenz in Rom auf Menschen mit Behinderung gelegt. Warum speziell diese Gruppe? Sind sie als schutzbedürftige Personen nicht automatisch Teil von Präventions- und Schutzkonzepten?
Pater Hans Zollner: Zunächst einmal ergibt sich aus allen Statistiken, die wir kennen, dass Menschen mit Behinderungen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, sexuell, körperlich oder psychisch missbraucht zu werden.
In Deutschland und anderen westlichen Ländern gibt es – jedenfalls auf dem Papier – zwar viele Wege und Stellen, solchen Missbrauch auch von Seiten der Menschen mit Behinderung selbst anzuzeigen. Aber de facto funktioniert das zu selten, weil diese Meldewege oft aus der Perspektive von Menschen ohne Behinderung gedacht, beziehungsweise daran angepasst sind. Es ist noch weit mehr zu entwickeln in Bezug auf Instrumente und Möglichkeiten, damit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen Missbrauch selbst melden können.
Frage: Wie geht denn die katholische Kirche mit Missbrauch an Menschen mit Behinderung um?
Zollner: Es gibt eine Beschäftigung mit diesen Fragen, besonders dort, wo es zu Skandalen gekommen ist. Ein gravierender Fall ist der des Taubstummeninstituts Provolo in Argentinien, betrieben von einer religiösen Gemeinschaft, die aus Verona stammt. In Mendoza wurden 15 taubstumme Kindern missbraucht – von Klerikern und auch von Angestellten.
Die große Schwierigkeit für Menschen mit Behinderung ist, zumal wenn sie sprachbehindert oder wenn sie Kinder oder Jugendliche sind, dass sie die entsprechenden Kanäle finden müssen, um gehört und verstanden zu werden. Wir wissen von anderen Betroffenen von Missbrauch, dass es schon schwer ist, überhaupt darüber zu kommunizieren, dass etwas Schreckliches geschehen ist.
Umso mehr ist es dann bei Menschen mit Behinderung eine Herausforderung, sie einerseits wissen zu lassen, dass es Dinge gibt, die nicht angemessen sind, weil sie ihre Würde verletzen. Und andererseits, dass sie das so äußern und sich an die entsprechenden Stellen oder Personen wenden, damit es wahrgenommen und entsprechend darauf regiert wird.
Notwendige Inklusion
Frage: Und es gibt viele Einrichtungen dieser Art, gerade in kirchlicher – katholischer wie evangelischer – Trägerschaft...
Zollner: ...und damit ist die Kirche ein großer Player auf dem Feld des Safeguarding für Menschen mit Behinderungen. Was immer sie für diese Menschen und ihre Sicherheit tut, hat eine Vorbildfunktion beziehungsweise die Möglichkeit, auf den gesamten Sektor einzuwirken, auch auf all jene anderen nicht-kirchlichen oder nicht-christlichen Institutionen.
Frage: Aber würden Sie sagen, dass die katholische Kirche im deutschen Sprachraum schon diese Vorbildfunktionen hat oder noch viel zu tun ist?
Zollner: Zunächst, es gibt viele Schritte nach vorne. Mir steht es nicht zu, ein Zeugnis auszustellen, aber natürlich gibt es immer Dinge, die man besser machen kann. Damit meine ich vor allem Überlegungen, wie behindertengerechte Meldewege etabliert werden können, wie sie überprüft und immer wieder neu nachjustiert werden.
Weiter geht es darum, wie man von den Leitlinien und Schutzkonzepten zu der tatsächlichen Implementierung kommt. An diesen Dingen muss man kontinuierlich und konsequent dranbleiben.
Frage: Wie sieht es mit der Inklusion behinderter Menschen in der Kirche überhaupt aus?
Zollner: In unseren Breiten, auch in der Kirche, reden wir von Inklusion. Der Papst hat kürzlich gesagt, dass wir nicht über Menschen mit Behinderung als von „denen“ oder den „anderen“ sprechen sollten, die wir in die Kirche holen müssen, sondern dass wir alle Mitglieder derselben Kirche, derselben Gesellschaft sind, dass wir alle zusammengehören.
De facto findet das aber zu wenig oder gar nicht statt. Wir haben während des Kongresses oft gehört, dass es in weiten Teilen der Welt kaum Gebärdendolmetscher gibt, die taubstumme Menschen einbeziehen könnten in Gottesdienste oder andere Aktivitäten.
Hinzu kommt, dass die Zugänge zu kirchlichen Räumlichkeiten immer noch in vielen Teilen der Welt einfach nicht zu bewältigen sind für Menschen mit körperlichen Behinderungen. Also auf der einen Seite gibt es hehre Ziele, auf der anderen lässt die Umsetzung zu oft zu wünschen übrig.
Frage: Gibt es beim Umgang mit Menschen mit Behinderung also ein ähnliches Gefälle weltweit wie beim Umgang mit Missbrauch?
Zollner: Sehr viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kongresses haben kommuniziert, dass in ihren Gegenden, vor allem in Afrika, Lateinamerika und Asien, Überlegungen zur Inklusion nicht ernsthaft angestellt werden. Das geschieht nur bei der ganz kleinen Gruppe von Leuten, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten.
Das hat auch kulturelle Gründe. Bis heute ist in manchen Gegenden eine Behinderung ein schamprovozierendes Zeichen, negativ behaftet oder wird als eine Strafe Gottes angesehen. Zudem geht es auch immer um den Einsatz der entsprechenden Ressourcen: Es kostet Geld, nicht nur eine Treppe, sondern auch eine Rampe zu bauen oder Gebärdendolmetscher ausbilden zu lassen und diese dann auch einzusetzen. Aber genau darum geht es: alle Menschen mit ihrer Diversität und mit ihren jeweiligen Bedürfnissen zu integrieren.
Jeder Mensch ist an bestimmten Punkten seines Lebens bedürftig und darauf angewiesen, dass sich jemand seiner annimmt. Deshalb geht es nicht um die Unterscheidung Menschen „mit Behinderung“ oder „ohne Behinderung“. Es geht um die Frage: „Wann bedarfst Du welcher Sorge, Unterstützung, und wie kann dann die Gesamtgesellschaft - in unserem Sinn die Kirche, die Pfarrei, die Schule oder andere Institutionen, Dir die notwendige Unterstützung anbieten?“