Beduinensiedlung Maarajat
Siedlergewalt im Schatten des Krieges

Immer mehr Beduinengemeinden fliehen vor israelischen Siedlern

Taibeh/Maarajat/Duma  ‐ Während sich im Gazastreifen die radikalislamische Hamas und Israel bekämpfen, werden Beduinen im Westjordanland von radikalen Siedlern bedroht. Über ein Schlachtfeld, das schon in friedlicheren Zeiten kaum Aufmerksamkeit findet.

Erstellt: 01.11.2023
Aktualisiert: 02.11.2023
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Von Andrea Krogmann (KNA)

„Ich weiß sehr wohl, dass zwischen dir und mir erbarmungslose Kriege und Gewehrkugeln stehen. Es gibt Grenzen zwischen dir und mir. Du fühlst dich wie ein Fremder in deinem Heimatland. Als wärst du ein unwillkommener Gast.“ Worte von Alya Mhlat, Beduinin und Schriftstellerin in der Wüstenregion des Westjordanlandes: Teil einer Kriegsregion, die zum Pulverfass aufgeheizt ist. Die junge Aktivistin sitzt mit traurigem, aber stolzem Blick unter ihrem aus Holzbrettern gezimmerten Sonnenschutz in der Beduinensiedlung Maarajat – noch. Denn israelische Siedler rücken immer näher.

Am 7. Oktober, als Hamas-Terroristen über den Süden Israels herfielen, änderte sich im Nahen Osten die Welt. Auch für die Beduinengemeinschaften im besetzten Westjordanland ist der „schwarze Schabbat“ zu einem düsteren Tag geworden. Mit den Augen der Welt auf dem Gazastreifen hat sich die Gewalt radikaler israelischer Siedler gegen die halbnomadischen Hirten deutlich verschärft.

Konsequenzen müssen sie kaum fürchten. Mindestens 13 Beduinengemeinden seien seither aus ihren angestammten Gebieten geflohen, teilten israelische Menschenrechtler in einem Hilferuf vom Sonntag mit. Nach Schätzungen von Guy Hirschfeld von der linken jüdisch-israelischen Organisation „Der Besatzung in die Augen sehen“ sind es eher 20.

Das Tal Wadi al-Sik machte den Anfang. Bis zum 12. Oktober lebten hier 40 Beduinenfamilien, etwa 230 bis 240 Leute, erzählt Abdelrachman Abu Baschar, Repräsentant der Wadi-al-Sik-Gemeinschaft vom Stamm der Kaabneh. Ihre Geschichte ähnelt jenen der meisten der rund 40.000 Beduinen, die heute in den besetzten palästinensischen Gebieten leben: 1948, im Zuge der israelischen Staatsgründung aus der Negev-Wüste vertrieben, waren die von den UN anerkannten Flüchtlinge auf der Suche nach einem Siedlungsgebiet immer wieder Vertreibungen ausgesetzt.

Im Wadi al-Sik, östlich von Ramallah, haben sie in den 70er Jahren ein Zuhause gefunden, 2016 sogar eine eigene Schule aufgemacht, die Beduinenkinder vieler benachbarter Orte anzog. Ungefähr zur gleichen Zeit, erzählt Abu Baschar, begannen die israelischen Behörden, den Beduinen Abrissbefehle für ihre Häuser zuzustellen. „Zwischen 2020 und 2023 konnten wir nichts mehr bauen; jedes noch so kleine Bauvorhaben wurde zerstört. Im Februar dann kam ein neuer Außenposten hinzu.“

Abu Baschar meint jüdische Siedlungsposten, die nicht nur nach internationalem Recht, sondern auch nach israelischem Recht illegal sind. Für Guy Hirschfeld sind es schlicht „Terror-Nester“, ihre radikalen Bewohner „Terroristen“. Mit der Ankunft des Siedleraktivisten Neria Ben Pazi in der Gegend habe 2018 der Terror gegen die Beduinen begonnen, sagen Hirschfeld und seine 71-jährige Mitstreiterin Hagar Geffen, die sich seit Jahren durch Begleit- und Präsenzprogramme für den Schutz der vielen kleinen Beduinengemeinden einsetzen.

Keiner weiß, wie es weitergeht

Auf Presseanfragen antwortet Ben Pazi nicht. Auch Hirschfeld spricht längst nicht mehr mit den extremistischen Siedlern - „seit ich verstanden habe, dass es nichts zu reden gibt“ mit jenen, die sich als gottgesandt sähen.

Jeder neue Außenposten fange gleich an, sagen die Aktivisten: „zwei bis vier Leute mit kleinen Herden, die langsam immer größere Kreise ziehen“. So wie im Wadi al-Sik. Als der Krieg losging, gaben die Siedler den Beduinen eine „Deadline“, den Ort zu verlassen. Fünf Tage später kamen sie „zu Dutzenden; die Beduinen flohen und ließen alles zurück“, erzählen sie. „Alles, was nutzbar ist, und 50 trächtige Schafe“ haben die Siedler laut Abu Baschar bei ihrem Beutezug aus den verlassenen Häusern und von den Feldern der Beduinen geraubt.

Nicht die Angreifer, sondern fünf Aktivisten und drei Palästinenser wurden bei dem Vorfall festgenommen; in den Augen der Aktivisten und Palästinenser symptomatisch. „Wenn wir die Polizei rufen, stehen sie auf deren Seite und helfen ihnen, nicht uns“, sagt Abu Baschar. Zwei plötzlich stoppende Polizeiautos auf der Hauptstraße lassen den Beduinen hinter der Mauer eines nahestehenden Hauses in Deckung gehen, blanke Angst im Gesicht.

Zwischen den Sicherheitskräften und den Siedlern zu unterscheiden, sei unmöglich, sagt der lateinische Pfarrer des nahe gelegenen Taibeh, Baschar Fawadleh. „Wenn sie die Uniform anziehen, sind sie Polizei oder Militär. Legen sie sie ab, sind sie Siedler.“ Viele der geflohenen Familien aus dem Wadi al-Sik haben auf dem Land des christlichen Ortes Zuflucht gefunden. Dort seien sie herzlich willkommen, bis eine bessere Lösung gefunden werde. Der Angriff der Siedler gelte allen ohne Unterschied: „Christen, Muslimen, Beduinen, Zivilisten“, so Fawadleh.

„Die Siedler ersticken uns“, sagt Sleiman Salame Zawahre vom Stamm der Jahalin in Raschasch. Die Zufahrtsstraße blockiert, ein angezündetes Haus und zwei weitere Häuser mit zerbrochenen Fenstern: Am Ende wurde die Bedrohung zu groß. Erst brachten die Beduinen von Raschasch ihre Frauen und Kinder in Sicherheit. Dann, schließlich, sich selbst. Bis zum Ende des Krieges haben sie in den Hügeln rund um Duma einen Platz gefunden; 18 Familien, 85 Personen. Ein bisschen Hoffnung gebe es hier, sagen sie. „Wie es dann weitergeht? Das weiß keiner.“ Eine Gummi-Ente liegt in der rotbraunen Erde. vielleicht von den Kindern beim Spielen vergessen, vielleicht bei der übereilten Flucht verloren.

Beduinensiedlung Maarajat
Bild: © Andrea Krogmann/KNA

Hagar Geffen (l.), israelische Menschenrechtsaktivistin, spricht mit Alya Mhlat, Beduinin, Schriftstellerin und Aktivistin, in der Beduinensiedlung Maarajat im Westjordanland (Palästinensische Gebiete).

Auch in Maarajat haben sie schon gepackt. Auch hier ist ein Außenposten aufgepoppt. Strategisch günstig, sagt Hagar Geffen, denn er schneidet die Beduinen von ihrem wichtigsten Weidegebiet ab. Auch hier gibt es Abrissbefehle; auch hier kommen die Siedler, wann es ihnen passt.

„Was in Wadi al-Sik passiert ist, macht uns Angst“, sagt Alya Mhlat. In einem Gedicht schreibt sie: „Komm schon, du Verrückter. Warum zögerst du, als externer Helfer in unser Lager zu kommen? Komm her! Ich verspreche, dich zu beschützen wie den Staub meiner Heimat. Geliebt, heilig, gut...“ In Prosa klingen ihre Sätze anders. „Die Menschen haben begonnen, Gold und Wertsachen zu verstecken. Sie sagen, bevor wir gehen, werden wir unsere Häuser anzünden, damit kein Siedler hier einzieht.“

Während sie spricht, stoppen israelische Grenzschützer einen von Alyas Nachbarn. Sein Trecker mit dem Wassertank für die Herde störe die öffentliche Ordnung; hier, auf dem staubigen Wüstenweg zwischen Beduinenhäusern. Die Präsenz der Aktivisten scheint in diesem Fall geholfen zu haben: Mit dem Schlachtruf der Rechten stobt der Polizeiwagen ohne weitere Aktionen davon. „Am Israel Chai – Das Volk Israel lebt!“.

KNA

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