Wie die Bevölkerung in Sierra Leone unter Landraub leidet
Makeni/Freetown ‐ Fruchtbares Ackerland ist weltweit zum begehrten Gut geworden. Von langfristigen Pachtverträgen profitieren Konzerne, aber kaum Besitzer vor Ort. In Sierra Leone sollen nun neue Gesetze große Landdeals verhindern.
Aktualisiert: 23.05.2023
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Kadiatu Jalloh lebt eine Autostunde von Makeni, der zweitgrößten Stadt im Norden von Sierra Leone, und steckt mitten in der Ernte ihrer Okraschoten. Die sind bis zu 15 Zentimeter lang und geben vielen Gerichten eine zähflüssige Konsistenz. Auf ihrer kleinen Parzelle baut Jalloh auch Reis, Paprika und Wassermelonen an. Ob sie das allerdings in den nächsten Jahren noch kann, ist unsicher. „Das Land gehört mir nicht“, sagt die Witwe, die vier Kinder und zwei Enkel hat. Dabei ist die 55-Jährige Haupternährerin der Familie.
Dass sie kein Land hat, hängt mit Traditionen zusammen. In zahlreichen Regionen durften Frauen bis zur Verabschiedung von zwei Landrechtsgesetzen im vergangenen Jahr, dem Customary Land Rights Act und dem National Land Commission Act, sowie einem neuen Gleichstellungsgesetz Anfang 2023 offiziell keine Flächen besitzen. Stattdessen wiesen ihnen Ehemänner oder Dorfälteste Stücke zu. „Ein schlechtes Gefühl. Wir sollten die gleichen Rechte haben“, fordert Kadiatu Jalloh. Besonders widersprüchlich ist, dass nach Schätzungen der Vereinten Nationen 70 Prozent der Ackerflächen von Frauen bearbeitet werden und sie im besonderen Maße zur Ernährungssicherheit beitragen.
Für Eleanor Thompson sind die neuen Gesetze ein Meilenstein. Die Juristin arbeitet in der Hauptstadt Freetown für die nichtstaatliche Organisation Namati, die beispielsweise Dorfgemeinschaften in Rechtsfragen berät. Neben dem Recht auf Landbesitz muss jede Kommission, die sich mit Landfragen befasst, mindestens zu 30 Prozent aus Frauen bestehen. „Sie können Investitionen zustimmen oder ablehnen“, so Thompson.
Sierra Leone mit seinen 8,9 Millionen Einwohnern verfügt über Rohstoffe wie Diamanten, Eisenerz und Bauxit, aber auch über begehrtes Farmland. Wenn das bisher von multinationalen Unternehmen gepachtet wurde, hatten ebenfalls Frauen wie Kadiatu Jalloh das Nachsehen. Das hat sie selbst erlebt, als 2008 die Schweizer Firma Addax Bioenergy in der Nähe von Makeni rund 55.000 Hektar über 50 Jahre - auch das untersagen die neuen Gesetze - pachtete. Als bisherige Landnutzerin hatte sie keinen Anspruch auf Teile der geringen Pachterträge von rund neun US-Dollar pro Hektar; überdies verlor sie den Zugang zur Ackerfläche.
Kadiatu Jalloh ist heute Mitglied in einer 15-köpfigen Frauengruppe des nichtstaatlichen Sierra-Leone-Netzwerks für das Recht auf Nahrung (SiLNoRF), ein Partner der Welthungerhilfe, über das sie ihre Parzelle erhält. Allerdings müsse jährlich neu verhandelt werden, sagt Projektmanager Mohmoh Lawrence Turay: „eine stressige Situation“. Auch verhindert dies Investitionen für eine effizientere Bewirtschaftung.
Addax Bioenergy - auf eine Medienanfrage antwortete das Unternehmen nicht - gelang es damals, ganze Dörfer zu pachten, inklusive Friedhöfe und Moscheen. Ziel war es, Zuckerrohr anzubauen, mit dem Bioethanol für den Biotreibstoff E10 destilliert und nach Europa exportiert werden sollte. Acht afrikanische und europäische Entwicklungsbanken unterstützten das Vorhaben, darunter die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft. Biokraftstoffe galten zum Erreichen von Klimazielen als zukunftsweisend.
Auch die große Hoffnung auf ein besseres Leben machte den Deal möglich. Sierra Leone hatte erst 2002 einen elfjährigen Bürgerkrieg mit rund 70.000 Toten und 2,6 Millionen Binnenvertriebenen beendet. „Vor allem junge Menschen haben gejubelt, weil Jobs, Schulen und Krankenhäuser versprochen wurden“, so Turay. Eine Fabrik wurde tatsächlich gebaut. Doch weder entstanden die erhofften langfristigen Arbeitsplätze, noch lohnte sich das Vorhaben für die Schweizer. 2016 wurden drei Viertel der Anteile an Sunbird Bioenergy Sierra Leone Limited verkauft. Aktueller Investor ist Browns Investment aus Sri Lanka.
Geblieben sind viele tausend Menschen, deren Leben sich nicht wie erhofft verbessert haben und die heute ohne Zugang zu Land sind, resümiert Mohamed B. Conteh. „Wir sind nicht glücklich. Doch es gibt keinen Ausweg.“ Conteh lebt in Worreh Yeama Village und vertritt Landeigentümer. Für ihn ist außerdem die Erkenntnis geblieben, sich nicht auf Politiker und Paramount Chiefs verlassen zu können; die traditionellen Herrscher gelten als „Hüter des Landes“, vermitteln bei Konflikten sowie neuen Verträgen rund um Land. Doch potenzielle Investoren verhandeln mit ihnen und nur in Ausnahmen direkt mit einzelnen Besitzern. Contehs Kritik: Sie haben schlechte Ziele verhandelt, von denen die Bevölkerung nicht profitiert.
Auch er setzt nun auf die neuen Gesetze. Ebenso wünscht sich Conteh, dass Beispiele von Widerstand zum Vorbild genommen werden. Die Landbesitzerfamilien in seinem Dorf entschieden damals, nur einen Teil der Flächen an Addax Bioenergy zu verpachten. „Dafür wurden wir damals kritisiert. Heute bitten uns Menschen um eine kleine Fläche, um überhaupt etwas anbauen zu können.“
KNA