Schneiderhan: Deutsch-russische Versöhnungsarbeit in Scherben
Kassel ‐ Der russische Einmarsch in der Ukraine erschwert die Arbeit vieler Versöhnungsinitiativen. Auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist betroffen, berichtet dessen Präsident Wolfgang Schneiderhan im Interview.
Aktualisiert: 28.02.2023
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Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine liegt die deutsch-russische Versöhnungsarbeit am Boden. Für General a.D. Wolfgang Schneiderhan, den Präsidenten des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, eine bittere Erkenntnis. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Kassel äußert Schneiderhan die Hoffnung, dass nach einem Friedensschluss erste vorsichtige Schritte der Versöhnung zwischen Russen und Ukrainern auch von Kriegsgräberstätten ausgehen könnten. „Hier hat der Volksbund lange Erfahrung. Wenn wir benötigt werden, sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten.“
Frage: Herr General a.D. Schneiderhan, was macht der Einmarsch Russlands in der Ukraine mit der deutsch-russischen Versöhnung?
Schneiderhan: Er trifft unsere Versöhnungsarbeit tief. Die Arbeit der offiziellen Ebenen ist eingefroren. Das ist bitter, denn der Volksbund hat sich auf allen Ebenen und mit aller Kraft seit vielen Jahren für Verständigung in Europa eingesetzt. Bedenken Sie: Wir haben in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in die das nationalsozialistische Deutschland so viel Leid und Zerstörung gebracht hat, Versöhnung erfahren dürfen. Mehr noch, wir erlebten Gastfreundschaft und konstruktive Zusammenarbeit, auch freundschaftliche Beziehungen entwickelten sich.
Frage: Trotz der riesigen Schuld, die die Deutschen in der Sowjetunion auf sich geladen haben, hat ihre Arbeit also gut funktioniert?
Schneiderhan: Besuche und Begegnungen auf Kriegsgräberstätten sind sehr emotional. Das heißt aber nicht, dass sie nur traurig sind. Sie müssen sich vorstellen, da sind Kinder gefallener Soldaten, die jetzt doppelt so alt sind wie ihre Väter, als sie starben. Ich erinnere mich an die kleine Schwester eines Gefallenen, sie war 94, sie brachte Heimaterde aus Süddeutschland bis in den Kaukasus, zum Grab ihres Bruders. Da fließen viele Tränen, nicht nur bei den Angehörigen, sondern auch bei den russischen Veteranen, die häufig an den Veranstaltungen teilnahmen. Gerade an diesen Orten, an denen jeder Mensch die Folgen des Krieges so vor Augen geführt bekommt, sind versöhnliche Begegnungen möglich.
„Der Frieden muss erst wieder in die Köpfe einziehen“
Frage: Putins Rede zum Stalingrad-Gedenken war sehr martialisch und griff auf alte Feindbilder gegenüber Deutschland zurück: Wie bewerten Sie diese Rede?
Schneiderhan: Dazu wurde schon viel gesagt. Ich möchte sie nicht weiter kommentieren. Wir wissen, wohin Propaganda führt.
Frage: Was wird aus dem Kriegsgräberabkommen von 1992, in dem Deutschland und Russland erstmals die Erhaltung und Pflege der Kriegsgräber vereinbart und geregelt hatten?
Schneiderhan: Es wurde im Dezember letzten Jahres 30 Jahre alt. Es gab keinen Anlass für eine Geburtstagsfeier, aber alle Beteiligten waren und sind von der Notwendigkeit überzeugt, denn es ist die gesetzliche Grundlage unserer Arbeit.
Frage: Hat der Krieg die Arbeit des Volksbundes in Russland bei der Betreuung der Kriegsgräber zum Erliegen gebracht?
Schneiderhan: Die technische Kriegsgräberfürsorge setzen wir fort, so gut wie es geht. Dort, wo wir Genehmigungen erhalten, bergen wir die Kriegstoten und bestatten sie. Feierliche Einbettungen mit politischer Prominenz und geistlichem Beistand sind zurzeit nicht möglich. Die Friedhöfe in der Russischen Föderation werden weiter gepflegt. Das sind wir den Angehörigen schuldig.
Frage: Wie sieht es mit den Kriegsgräberstätten in der Ukraine aus?
Schneiderhan: Auch die Friedhöfe in der Ukraine werden - bis auf die vier im umkämpften Osten - gepflegt. Zum aktuellen Zeitpunkt liegen uns Informationen darüber vor, dass auf den Friedhöfen Saporischschja ein und Kiew zwei Bäume beschädigt wurden. Die Pflegerin des Friedhofs in der umkämpften Stadt Charkiw ist inzwischen wieder zurückgekehrt. Diesen Friedhof haben wir erst auf Minen und Blindgänger überprüfen lassen, bevor die Pflegearbeiten wieder aufgenommen wurden.
Frage: Wer pflegt die Kriegsgräber in diesem Jahr?
Schneiderhan: Unsere Pflegefirmen, wie jedes Jahr. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möchten im Frühling mit Saisonbeginn wieder die aktive Arbeit aufnehmen.
Recherchearbeiten werden fortgeführt
Frage: Gab es Probleme für deutsche Mitarbeiter vor Ort?
Schneiderhan: Der Umbettungsleiter für Wolgograd berichtete, dass er im August letzten Jahres dort freundlich empfangen worden sei, allerdings habe man ihn erstaunt gefragt, warum er denn so spät käme. Unser Büroleiter in Moskau, im Moment der einzige deutsche Mitarbeiter des Volksbundes vor Ort, berichtet, dass die Zusammenarbeit mit den russischen Mitarbeitenden, also Pflegefirmen und auch Suchtruppen unproblematisch verläuft. Umgang und Ton der Menschen sind höflich.
Frage: Was passiert mit der Versöhnungsarbeit - also gemeinsamen Workcamps, Jugendbegegnungen und Gedenkveranstaltungen?
Schneiderhan: Da die Sicherheit der Jugendlichen höchste Priorität für uns hat, bieten wir zurzeit keine Begegnungen in Russland und der Ukraine an. Seit dem Krieg haben sich auch keine Teilnehmer aus der Russischen Föderation angemeldet. Im letzten Sommer trafen in einem Workcamp in München zwei Ukrainerinnen und eine russische Teilnehmerin, die schon länger in der Bundesrepublik studierte, zusammen. Was mir erzählt wurde, empfand ich als anrührend und ermutigend. Die drei jungen Frauen gingen sehr behutsam und freundlich miteinander um. Sie machten „Ferien vom Krieg“. So ähnlich haben sie es auch selbst beschrieben.
Frage: Was wird speziell aus dem Kriegsgefangenen-Projekt?
Schneiderhan: Das Projekt „Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte“ dient der Schicksalsklärung deutscher und sowjetischer Kriegsgefangener - es ist eine wichtige humanitäre Aufgabe. Die Quellenbestände in den russischen Archiven sind besonders umfangreich. In der Vergangenheit konnten wir gut mit den staatlichen Stellen in der Russischen Föderation kooperieren. Bis zum heutigen Tag wurden insgesamt 3,9 Millionen Scans, digitale Kopien gesammelt, die Informationen zu rund einer Millionen Menschen enthalten. Seit dem Einmarsch in die Ukraine ist die Kooperation eingestellt. Das liegt auch daran, dass die zuständigen staatlichen Stellen den Einmarsch mit Argumenten legitimieren, die historische Tatsachen grob verzerren. Auf dieser Grundlage kann es keine Zusammenarbeit geben. Das hat große Auswirkungen auf die Archivarbeit.
Frage: Aber die Suche in deutschen Archiven kann weitergehen, oder?
Schneiderhan: Der DRK-Suchdienst, der für die Recherche, Dokumentation und Auskünfte zu deutschen Kriegsgefangenen zuständig ist, erschließt keine neuen Bestände in Moskauer Archiven. Aus deutschen Archiven werden keine Dokumentkopien an russische Partner mehr übergeben. Diese Zusammenarbeit war in der Vergangenheit ein wichtiges Signal und ein großer Erfolg für das Projekt. Der Auftrag der Schicksalsklärung bleibt aber bestehen. Sowjetische Kriegsgefangene waren einer der größten Opfergruppen - deshalb werden die Recherchearbeiten, die vom Auswärtigen Amt gefördert wurden, fortgeführt. Zurzeit werden Kooperationen mit anderen Nachfolgestaaten der UdSSR initiiert. Das Bundesarchiv erteilt weiter Auskünfte zu sowjetischen Kriegsgefangenen, das Deutsche Rote Kreuz bearbeitet weiter Anfragen zu deutschen Kriegsgefangenen.
Frage: Erkenntnisse aus Archiven steht dann gegen Propaganda?
Scheiderhan: Die gegenwärtige Situation zeigt, wie wichtig es ist, sich der Geschichte zu stellen und aus ihr zu lernen. Dazu gehört es, Archivquellen aufzubereiten und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich bin sicher, oder besser, ich hoffe es, dass auch insbesondere junge Menschen, die sich mit historischen Wahrheiten auseinandersetzen, weniger anfällig für Mythen und Geschichtsfälschungen sind.
Frage: Können Sie sich auf eine Wiederaufnahme der Arbeit nach einem Ende des Krieges vorbereiten?
Scheiderhan: Der Frieden muss erst wieder in die Köpfe einziehen. Im Moment regiert die Schlachtfeldlyrik. Wie alle Kriege begann auch dieser Krieg gegen die Ukraine mit Lügen, mit Hetzreden und Hass. Er wurde vorbereitet. Vielleicht wollten wir das nicht sehen und nicht wahrhaben. Wenn dieser Krieg endlich zu Ende geht, bedeutet das aber nicht automatisch Frieden. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg, er muss gerecht sein. Dazu gehören die Einhaltung der Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Sicherheit. Was mit Hass und Lügen begann, endet nun mit zerstörten Städten und Landschaften, mit Leid und Tod. Es endet auf Soldatenfriedhöfen. Vielleicht können dort die ersten vorsichtigen Schritte auf dem Weg zur Versöhnung gewagt werden. Hier hat der Volksbund lange Erfahrung. Wenn wir benötigt werden, sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten.
KNA