Papst Franziskus lächelt und grüßt
Kirche der Armen

Kirche der Armen: Mit Papst Franziskus nach Essen-Katernberg

Papst Franziskus' Wunsch nach einer „armen Kirche für die Armen“ ruft eine Forderung des Zweiten Vatikanischen Konzils ins Gedächtnis.

Erstellt: 11.06.2013
Aktualisiert: 27.07.2022
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Papst Franziskus setzt einen Stachel ins Fleisch unserer bürgerlichen Kirche“ – diese Aussage einer engagierten Tiroler Katholikin bringt die Sache auf den Punkt. Mit seinem Wunsch nach einer „armen Kirche für die Armen“ hat der neue Papst eine Forderung aus dem Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils wieder ins Gedächtnis gerufen, die in der Nachkonzilszeit vor allem in den Kirchen des Südens virulent blieb.

Der folgende Beitrag begibt sich auf eine entsprechende Spurensuche, deren Weg von einer römischen Katakombe bis hinein in die sozialen no-go-areas unserer Tage führt – und dabei etwas zu entdecken hilft, was in der Gemeinschaft St. Egidio, die ihren Anfang in den römischen Vorstädten nahm, das „Evangelium der Peripherie“ genannt wird. In diese Grenzbereiche schickt Papst Franziskus seine Kirche nämlich: „Die Kirche ist dazu berufen, sich zu überschreiten und nicht nur an die geographischen Peripherien zu gehen, sondern auch an die existenziellen […]“, so der neue Papst in seiner vielbeachteten Rede während einer Kardinalskongregation vor dem Konklave. Im Folgenden geht es um eine konzilstheologische Zeitreise von Rom nach Essen-Katernberg, die dieser herausfordernden Sendung einer Kirche für die Armen folgt, die zugleich auch eine Kirche mit den Armen ist, weil sie an die Peripherien unserer Gesellschaft das Zeugnis einer selbst armen Kirche ablegt. Mit Papst Franziskus gilt es, eine Reise zurück in die Zukunft der eigenen Gegenwart anzutreten, die Fragen bezüglich der hiesigen Rezeption des Zweiten Vatikanums aufwirft: Sind wir wirklich eine „Kirche in der Welt von heute“ im vollen Sinne des Konzils? Oder sind wir vor allem eine Kirche des gutbürgerlichen Pfarrmilieus?

Von Rom…

Mit seinem Wunsch spannt Papst Franziskus, der in mancherlei Hinsicht wie ein Johannes redivivus wirkt, einen Bogen zurück zu jenem Papst der jüngeren Kirchengeschichte, bei dem sich pastorale Erfahrungen an der Peripherie ebenfalls zu einer Option für die Armen verdichteten: Johannes XXIII.

Als der spätere Kardinal Willebrands seinen Dienst im römischen Einheitssekretariat antrat, wurde er von Papst Johannes mit folgenden Worten begrüßt: „Mein Freund, Sie werden hier leiden müssen. Denn hier gibt es viele Leute, die niemals etwas anderes als Rom gesehen haben!“. Seinem Kardinalstaatssekretär Domenico Tardini soll er gesagt haben: „Sie kennen das Zentrum viel besser als ich, aber ich kenne die ‚Peripherie‘ viel besser als Sie – also: arbeiten wir zusammen.“ Johannes XXIII. spielt hier auf seinen Lebenslauf an, der ihn nicht nur in geographische, sondern auch in existenzielle Randbereiche geführt hatte. Auf dem Sterbebett bekennt er: „Heute sind wir mehr denn je […] darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchen zu dienen, nicht nur den Katholiken […]. […] Wer ein recht langes Leben gehabt hat, wer sich am Anfang dieses Jahrhunderts den neuen Aufgaben einer sozialen Tätigkeit gegenübersah, […] wer wie ich zwanzig Jahre im Orient und acht in Frankreich verbracht hat […], der weiß, daß der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu ergreifen und in die Zukunft zu blicken.“ Dieser biographische Kontext bildet wohl auch den Sitz im Leben einer konzilstheologisch höchst bedeutsamen Formulierung, die sich in der Rundfunkansprache des Papstes zur Konzilseröffnung vom 11. September 1962 findet: „Die Kirche erweist sich […] als eine Kirche aller, vornehmlich als eine Kirche der Armen.“ Aufgenommen wurde dieser Impuls Johannes’ XXIII. durch eine ‚zentrale Randgruppe‘ des Konzils, die sich erstmals am 26. Oktober 1962 im Belgischen Kolleg traf und deren Gesichter die Physiognomie einer sich globalisierenden Weltkirche zeigt: die Gruppe Kirche der Armen. Am konziliaren Kreuzungspunkt dieser informellen ‚Konzilspartei‘, in der sich die geographischen Achsen von Nord und Süd, Orient und Okzident schnitten, fand sich eine bunte Koalition von Bischöfen und Theologen zusammen, deren Vertreter aus römischer Sicht damals zur Peripherie der Kirche gehörten – und die mit Blick auf die pastoralen Optionen des heutigen Papstes einen näheren Blick lohnt, der sich in seiner ersten Ansprache selbst als einen Bischof „vom Ende der Welt“ bezeichnete.

Koordinator der Gruppe war der Franzose Paul Gauthier, der 1958 in Nazareth das christliche ‚Kibbuz‘ der von Charles de Foucauld inspirierten Compagnons de Jésus gegründet hatte. Das Präsidium bildeten die Kardinäle Lercaro von Bologna und Gerlier von Lyon sowie der melkitische Patriarch Maximos IV. Saigh von Antiochien. Ihnen zur Seite stand ein Animationskomitee: Georges Hakim von Nazareth, Manuel Larrain von Talca, der Vorsitzende der lateinamerikanischen Bischofkonferenz CELAM, Helder Camara aus Recife und Guy-Marie Riobé aus Orleans, die sich bereits seit einer Zusammenkunft 1958 in Brasilien kannten, Charles Himmer von Tournai und Weihbischof Julius Angerhausen, zwei aus westlichen Industriestädten stammende Bischöfe, Weihbischof Alfred Ancel aus Lyon, ein ehemaliger Arbeiterpriester, der Saharamissionar Georges Mercier von Laghouat, der Westafrikaner Bernard Yago von Abidjan sowie sechs weitere Konzilsväter. Neben Karol Woityla aus Krakau, dem späteren Papst Johannes Paul II., zählten zu den übrigen Mitgliedern der Gruppe später so bekannte Bischöfe wie François Marty von Reims, der spätere Kardinal und Erzbischof von Paris, der Brasilianer Antonio Fragoso von Crateus, der Vietnamese Paul Nguyen Van Binh von Saigon und der Westafrikaner Jean-Baptiste Zoa von Yaoundé.

Für wichtige personale Verbindungslinien zur Entstehung der Pastoralkonstitution Gaudium et spes sorgten Marcos McGrath von Santiago de Veraguas und Emilio Guano von Livorno. Und zu den theologischen Beratern der Gruppe zählten unter anderem so berühmte Konzilstheologen wie die Dominikaner M.-Dominique Chenu und Yves Congar, französische Arbeiterpriester wie André Depierre und Jacques Loew, konzilsintern wichtige Gestalten wie Giuseppe Dosetti und nicht zuletzt auch René Voillaume, der Gründer der Kleinen Brüder und Schwestern Jesu.

Der letztgenannte Name führt zu dem in diesem Zusammenhang wirkungsgeschichtlich wohl bedeutsamsten Konzilsereignis. Aus der Gruppe Kirche der Armen stammten die meisten jener vierzig Konzilsväter, die in der Domitilla-Katakombe – geographisch gesehen also an der Peripherie der Stadt Rom – am 16. November 1965 den berühmten ‚Katakombenpakt‘ unterzeichneten: eine Reihe von Selbstverpflichtungen zu einem bischöflichen Leben in „evangelischer Armut“ (M.-Dominique Chenu), der sich später noch über 500 weitere Bischöfe anschlossen und die auch den persönlichen Lebensstil des neuen Papstes prägten. Viele der Unterzeichner waren mit der Spiritualität Charles de Foucaulds verbunden, weshalb man sie in Anlehnung an die Kleinen Schwestern und Brüder Jesu auch scherzhaft die Gemeinschaft der „Kleinen Bischöfe“ nannte.

Ihr programmatischer Leitbegriff „Kirche der Armen“ findet sich in den Dokumenten des Konzils nicht wörtlich wieder. Der Sache nach kommt er dort aber dennoch vor – zum Beispiel in einer Passage der dogmatischen Kirchenkonstitution Lumen gentium, die dieser konziliaren „pressure group“ (D. Pelletier) zu verdanken ist: „Wie Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen Weg einzuschlagen […].“ (LG 8). Stärker noch kommt das Anliegen einer Kirche der Armen aber in der pastoralen Kirchenkonstitution Gaudium et spes zum Zug: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders [praesertim] der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (GS 1). Mit dem kleinen, konzilstheologisch jedoch höchst bedeutsamen Wörtchen praesertim („besonders, vor allem“) wird hier eine pastorale Vorrangigkeit benannt, die dann schließlich auf der CELAM-Generalversammlung 1968 in Medellín zur expliziten Formulierung einer „Option für die Armen“ führte – eine lehramtliche Festlegung der unmittelbaren Nachkonzilszeit, die durch die vom neuen Papst maßgeblich mitbestimmte CELAM-Konferenz 2007 in Aparecida ausdrücklich bekräftigt wurde. In einer weiteren Schlüsselpassage von Gaudium et spes ist die Rede von einem entsprechenden pastoralen Komparativ: von „bedrängenderen Notwendigkeiten“ (GS 46), die es in den Blick zu nehmen gelte. Dieser Prioritätensetzung gemäß, lässt sich auch das konziliare Missionsdekret als eine Konkretisierung von GS 1 lesen, die nicht nur für ferne ‚Heidenländer‘ in Übersee, sondern auch für den eigenen Kontext gilt: „Die Kirche ist […] mit den Menschen jeden Standes verbunden, besonders aber [maxime vero] mit den Armen und Leidenden […]. Sie teilt ihre Freuden und Schmerzen, weiß um die Sehnsüchte und die Rätsel des Lebens und leidet mit in den Ängsten des Todes.“ (AG 12).

…nach Essen-Katernberg

Vom Konzil zurück in die Gegenwart. Bitte folgen Sie mir für einen Augenblick in die einkommensschwächste Region im Westen Deutschlands: in das Ruhrgebiet. In keiner Stadt des Ruhrgebiets gibt es mehr Sozialhilfeempfänger als in Essen. Der Stadtteil von Essen mit dem geringsten Haushaltseinkommen heißt Katernberg. Und die ärmste Straße in Katernberg trägt den Namen Meerkamp. Soweit die Statistik.

Walter Wüllenweber, ein Journalist des Nachrichtenmagazins STERN, ist nach Essen-Katernburg gefahren und hat 2004 über seine Eindrücke eine Reportage verfasst, die unter anderem mit dem Deutschen Sozialpreis und dem Henri-Nannenpreis ausgezeichnet wurde: Das wahre Elend. Reportage aus der bildungsfreien Zone. Wüllenweber erlaubt darin Einblicke in den Alltag der deutschen Unterschicht: „Im Meerkamp […] leben die Armen heute in geräumigen Wohnungen mit Einbauküche, Mikrowelle, Waschmaschine, Spülmaschine, Handy, meist mehreren Fernsehern […] Die heutige Unterschicht leidet keine Not […]. Und dennoch lebt sie im Elend. Das Elend ist keine Armut im Portemonnaie, sondern die Armut im Geiste. Der Unterschicht fehlt es nicht an Geld, sondern an Bildung. In keinem OECDLand […] werden Unterschichtskinder im Bildungssystem so skandalös benachteiligt wie in Deutschland. Einmal unten, immer unten.“

Bildungsmäßig chancenlose Sozialmilieus wie die in Essen-Katernberg anzutreffenden Personengruppen werden von den Sinus-Milieustudien „Konsummaterialisten“ oder von einer im Auftrag der Friedrich-Ebert- Stiftung erstellten Studie „abgehängtes Prekariat“ genannt. Unter welchem soziologischen Label man diese Menschen auch immer zusammenfasst, die an der Peripherie einer insgesamt wohlhabenden und zum Teil himmelschreiend ungleichen Gesellschaft leben – es bleibt die Frage: Kommen sie in unserer Kirche vor? Und wenn ja: wo? Gibt es pastorale Orte, an denen sie Respekt erfahren und ihre eigene Geschichte erzählen, neue Horizonte kennenlernen und über sich hinauswachsen können? Es gibt sie, wenn auch zumeist nicht im Rahmen des Pfarrmilieus. Denn es gibt durchaus Kontakte dieser Sozialmilieus zur Kirche. Zum Beispiel im Falle der Inanspruchnahme von sakramentalen Kasualien wie Hochzeit oder Taufe, insbesondere aber über die Caritas. Dass wir diese Kontakte jedoch an unseren gängigen Orten der Pastoral so wenig wahrnehmen, hängt mit einer strukturellen ekklesiologischen Schizophrenie zusammen, die im pastoralen Alltag ein Zusammenwachsen dessen erschwert, was vom Evangelium her doch eigentlich zusammengehört: der herkömmlichen Gemeindepastoral und des schleichend daraus ‚outgesourcten‘ und an die sozialen Profis von der Caritas delegierten kirchlichen Grundvollzugs der Diakonie.

Eine Gruppe Menschen halten Schilder vor sich
Bild: © KNA

Vor dem Kanzleramt demonstriert das Bündnis „Umfairteilen" für eine gerechtere Politik. Für die Kirche bleibt es eine Herausforderung, angesichts der größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland, sich den betroffenen Milieus zuzuwenden, ihnen Raum und Gehör zu verschaffen, ja selbst an die Ränder der Gesellschaft zu gehen.

Diesem gespaltenen Kirchenbewusstsein entspricht eine spezifische Schlagseite der Konzilsrezeption im deutschen Sprachraum. In der Nachkonzilszeit war man dort zunächst einmal vor allem mit dem pastoralen „Innenausbau“ der Kirche beschäftigt. In den beiden ersten der vier Konstitutionen des Konzils ausgedrückt, die die Konzilserfahrung zahlreicher hiesiger Katholikinnen und Katholiken geprägt haben: mit der Umsetzung von Sacrosanctum concilium und Lumen gentium. Liturgie und Strukturreform haben die nachkonziliare Agenda der meisten Pfarrgemeinden hierzulande dominiert. Die Hl. Messe wurde nun mit dem Gesicht zum Volk beziehungsweise auf Deutsch gefeiert und Pfarrgemeinderäte wurden eingerichtet. Mit seiner Rede von einer „armen Kirche für die Armen“ fordert Papst Franziskus uns auf, eine im Sinne des Konzils stärker extrovertierte Kirche zu werden, die über die sozialen Grenzen ihrer Pfarrmilieus hinausgeht – und über diese milieupastorale Selbstüberschreitung dann auch mehr von ihrem eigenen Gott erfahren kann. Eine pastorale Heraus-Forderung im wahrsten Sinn des Wortes, die mit den beiden anderen Konzilskonstitutionen zusammenhängt: Gaudium et spes schickt die Kirche an die Peripherien menschlicher Existenz und begreift diese mit Dei verbum als den Ort einer möglichen Offenbarung. Eine Kirche des Konzils im Sinne des neuen Papstes ist das, was auch ein großes deutsches Outdoor-Unternehmen zu sein verspricht: Draußen zuhause.

In Essen-Katernberg und anderswo findet die Kirche dann nicht nur ein caritatives Betätigungsfeld, sondern auch pastorale Orte, an denen sie ihr wichtigstes gesellschaftliches Kapital (wieder)gewinnen kann: Glaubwürdigkeit. Gelänge es der Kirche, die Exkommunikation ganzer Sozialmilieus aus ihrer Mitte zu vermeiden, dann wäre das ein leuchtendes Beispiel für den Zusammenhalt einer offenen Gesellschaft, in der Exklusion längst ein politisches Megathema der Zukunft darstellt. Dann würde auch unsere bisweilen wohlfeile Rede von der Option für die Armen jenseits des Appellativen zu neuer Bedeutung kommen. Denn sie ist nichts für christliche Helden des Konjunktivs (Motto: „Wir müssten, könnten, sollten“), sondern braucht Hand und Fuß. Das geht zuallererst an die eigene Adresse: Meine Hände und meine Füße. Und das heißt: Die eines bildungsmäßig privilegierten Theologieprofessors, der Johann B. Metz zufolge in der paradoxen Situation steht, ein „verbeamteter Einweiser in die Nachfolge Jesu“ zu sein. Dieser Stachel jedenfalls ist erfolgreich gesetzt.

Von Christian Bauer, Professor für Interkulturelle Pastoraltheologie/Innsbruck

Stand: Juni 2013

Mit Dank für die freundliche Abdruckgenehmigung durch das Fachmagazin Forum Weltkirche.