Wir werden ungeduldiger
Köln/Bonn ‐ Das Fairtrade-Siegel hat sich zu einem der bekanntesten Sozialsiegel entwickelt. Wie kam es dazu?
Aktualisiert: 23.06.2022
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Vor 30 Jahren wurde mit Transfair die erste Dachorganisation für fairen Handel in Deutschland gegründet. Inzwischen ist das Fairtrade-Siegel für fairen Handel nach der Bio-Zertifizierung das bekannteste Sozialsiegel in der Bundesrepublik, sagt der Vorstandsvorsitzende des Vereins, Dieter Overath. Im Interview spricht er über die beliebtesten Fairtrade-Produkte, die Auswirkungen der Corona-Pandemie, Forderungen für die Zukunft und seinen Abschied nach 30 Jahren.
Frage: Herr Overath, vor nunmehr 30 Jahren wurde Fairtrade – damals noch unter dem Namen Transfair – gegründet. Sie waren von Anfang an dabei. Wie ist der Gedanke entstanden?
Overath: Unser Hauptanliegen von Beginn an war es, den fairen Handel über den Kreis der Weltläden und kirchlichen Aktionsgruppen hinaus in den Mainstream zu bekommen, also fair gehandelte Waren im normalen Handel verfügbar zu machen. Das hat damals schon nach einem Jahr mit dem Kaffee geklappt, den die ersten Supermarktketten in ihr Sortiment aufgenommen haben. Seitdem wurden über 250 Tausend Tonnen Fairtrade-Kaffee verkauft, das entspricht umgerechnet etwa 36 Milliarden Tassen.
Frage: Kaffee ist wahrscheinlich das bekannteste Fairtrade-Produkt. Welche anderen Produkte laufen besonders gut, welche nicht?
Overath: Tatsächlich beträgt der Marktanteil beim Fairtrade-Kaffee in Deutschland insgesamt nur knapp fünf Prozent. Am höchsten liegt er – vielleicht etwas unerwartet – mit 35 Prozent bei Rosen. Jährlich werden in Deutschland rund 600 Millionen fair gehandelte Rosen verkauft, vor allem aus Ostafrika. Hätte mir das vor 30 Jahren mal jemand weisgesagt, dem hätte ich gesagt: „Träum weiter“.
Ein blinder Fleck ist leider nach wie vor die Baumwolle. Bei Textilien sind wir in den großen Modefirmen quasi gar nicht vertreten, da liegt der Anteil weit unter einem Prozent. Das liegt daran, dass die Modebranche noch zu sehr auf Fastfashion setzt und Nachhaltigkeit oft nur ein Lippenbekenntnis ist.
Frage: In den vergangenen 30 Jahren hat sich gesamtgesellschaftlich sowie auch in Wirtschaft und Handel viel verändert. Sind die Standards für fairen Handel heute noch dieselben wie zu Beginn?
Overath: Natürlich müssen wir regelmäßig unsere Standards so wie Mindestpreise überarbeiten und anpassen. Wichtige Meilensteine waren da etwa die Einführung des Plantagenstandards für unsere Produktionspartner in den Bereichen Blumen, Tee, Wein und Bananen im Jahr 1994. Besonders wichtig ist auch das 2011 eingeführte Mitbestimmungsrecht aller Produzenten. Sie sind damit in allen wichtigen Entscheidungsgremien bei Fairtrade beteiligt.
Man muss immer mitbedenken, dass Fairtrade ja nicht nur aus dem Verteilen unserer „TÜV-Plakette“ an fair gehandelte Waren besteht. Dazu gehören auch Kampagnen-, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, damit die Idee auch in der Zivilgesellschaft wirken kann. Ich denke, einer unserer größten Erfolge der vergangenen 30 Jahre ist, dass wir Fairtrade-Produkte bekannt machen und Produzenten aus der Anonymität hervorholen konnten.
Frage: Das entspricht ja einem generellen Trend, nicht nur Kartoffeln und Gemüse regional zu kaufen, sondern auch den Bauern dahinter zu sehen. Wie können Sie da mit Produzenten auf der anderen Seite der Welt mithalten?
Overath: Wir sehen Fairtrade als eine Art „globale Nachbarschaft“. Produkte mit Siegel sind inzwischen oft mit QR-Codes ausgestattet, über die der Konsument sich ganz einfach informieren kann, wo sein Produkt herkommt und von wem es angebaut wird. Dem Wunsch nach Transparenz kommen wir also schon am Produkt nach und dann auch über Soziale Medien oder am Verkaufsort. Dadurch wollen wir den Menschen in den Anbauländern eine Stimme geben und mehr Nähe schaffen. Kakao oder Kaffee gibt es ja nunmal nicht regional.
Frage: Das 30. Jahr ihres Bestehens ist gleichzeitig das dritte Jahr der Corona-Pandemie, deswegen muss auch die Frage gestellt werden: Wie hat sich die Pandemie auf den fairen Handel ausgewirkt?
Overath: Die Auswirkungen waren natürlich groß. Man muss dazu sagen, dass die Einschränkungen, Lockdowns, in den Produzentenländern oft ungleich schärfer waren als hier. So war es für die Produzenten teilweise kaum mehr möglich, auf ihre Felder und Plantagen zu gelangen. Zudem sind in quasi allen Bereichen, von Produktion bis Export, die Kosten deutlich gestiegen, was direkt oder indirekt auch auf die Pandemie zurückgeführt werden kann. Vor allem hat Corona, insbesondere in der Diskussion um die Impfgerechtigkeit, aber gezeigt, wie groß die Differenzen zwischen unserer Perspektive und der der Menschen im globalen Süden ist.
Frage: Inwiefern?
Overath: Es geht zum Beispiel darum, endlich die Lücken zu schließen in der Debatte um Klimawandel und soziale Gerechtigkeit. Die Produzenten im globalen Süden bekommen die Folgen des Klimawandels längst schon und viel ausgeprägter als wir zu spüren. Das gefährdet ihre Ernte, ihr Auskommen und ihre Lebensgrundlage. Und wie die Pandemie kann auch der Klimawandel ohne globale Gerechtigkeit nicht gelöst werden. Es muss nun einfach schneller gehen, die Prozesse müssen beschleunigt werden. Wir werden ungeduldiger.
Frage: Heißt das, dass auch Sie noch mehr verändern müssen?
Overath: Wir sind uns bewusst, dass unser Erfolg der ersten 30 Jahre nur dann wirklich ein Erfolg ist, wenn sich die kommenden Jahre für den fairen Handel noch intensiver und volumenträchtiger entwickeln. Ein Land mit solch einem Wohlstand wie Deutschland muss sich fragen, ob auf Dauer Billigangebote wie Bananen für unter einen Euro das Kilo nicht ein Grund zum Schämen sein sollten. Auf lange Sicht muss das Ziel sein, dass Fairtrade-Konzepte der Standard für den Handel werden. Gleichzeitig müssen wir weg davon, dass sich nur die für fairen Handel einsetzen, die bewusst etwas besser machen wollen. Um ganze Branchen umzukrempeln und auch die mitzunehmen, die sich nicht darum scheren, brauchen wir die Politik, die einen allgemeingültigen Rahmen setzt und dabei die Schwächsten im Fokus hat.
Frage: Sie werden sich in diesem Jahr nicht mehr als Vorsitzender zur Wahl stellen und Fairtrade nach 30 Jahren in andere Hände übergeben. Worauf blicken Sie persönlich – auch mit Stolz – in dieser Zeit zurück?
Overath: In den Anfangszeiten musste ich viele Klinken putzen, ich wurde für die Fairtrade-Idee regelrecht belächelt. Diese Zeiten sind vorbei: Inzwischen gehören Nachhaltigkeitsabteilungen fast selbstverständlich zu größeren Unternehmen, kein Supermarkt in Deutschland, der keine Fairtrade-Produkte führt. Dazu kommen Engagierte in knapp 800 Kommunen, über 800 Schulen und Hochschulen und unsere über 30 Mitgliedsorganisationen, darunter Brot für die Welt und Misereor und die kirchlichen Jugendverbände, die uns seit vielen Jahren unterstützen.