Plaza de Mayo, Buenos Aires, Argentinien
Bild: © KNA

Die Mütter vom Plaza de Mayo

Glauben Sie mir – keine von uns wollte eine Mutter der Plaza de Mayo werden!“ Tati Almeida erzählt ihre Geschichte, und man glaubt ihr das sehr schnell. In der Mitte ihres Lebens wurde die heute 83-Jährige von einer konservativen Offiziersgattin zu einer Demonstrantin gegen die Armee; sie ist es bis heute. Während der Militärdiktatur in Argentinien (1976–1983) verschwanden rund 30.000 Menschen: verschleppt, gefoltert, die meisten getötet, mit dem Flugzeug über dem Meer abgeworfen. Einer von ihnen war Tati Almeidas Sohn. Nur wenige Fälle wurden aufgeklärt.

Erstellt: 06.12.2012
Aktualisiert: 11.07.2015
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Glauben Sie mir – keine von uns wollte eine Mutter der Plaza de Mayo werden!“ Tati Almeida erzählt ihre Geschichte, und man glaubt ihr das sehr schnell. In der Mitte ihres Lebens wurde die heute 83-Jährige von einer konservativen Offiziersgattin zu einer Demonstrantin gegen die Armee; sie ist es bis heute. Während der Militärdiktatur in Argentinien (1976–1983) verschwanden rund 30.000 Menschen: verschleppt, gefoltert, die meisten getötet, mit dem Flugzeug über dem Meer abgeworfen. Einer von ihnen war Tati Almeidas Sohn. Nur wenige Fälle wurden aufgeklärt.

Im April 1977 versammelten sich erstmals die Mütter von Verschwundenen auf dem Platz der Mai-Revolution im Zentrum von Buenos Aires. Die Geschichte der „Mütter der Plaza de Mayo“ ist auch eine Geschichte von Verrat. Am 8. Dezember 1977, vor 35 Jahren, vor der Kirche Santa Cruz, einem Zentrum des Widerstands: Nach der Messe geht Alfredo Astiz, vorgeblich ein junger Sympathisant – tatsächlich ein Geheimdienstoffizier, der sich das Vertrauen der Führungsriege der Madres erschlichen hatte – mit einem großen Geldschein unter den Kirchgängern herum, um einzelne nach Wechselgeld für eine gemeinsame Aktion zu fragen. Ein vereinbartes Zeichen, Judaskuss und Todesurteil.

Einige der Leichen wurden später an der Küste Uruguays angeschwemmt – mutmaßlich noch lebendig abgeworfen. Die ermordete Vorsitzende der Madres, Azucena Villaflor de Vicenti, sollte nie erfahren, dass ausgerechnet ihr Vertrauter Astiz für ihren Tod verantwortlich war. Dass der „blonde Todesengel“, heute 61 Jahre alt, Ende 2011 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, war für die Madres eine tiefe Genugtuung.

Bild: © KNA

Tati Almeida wurde in eine Familie von Militärs geboren. Sie heiratete einen und war von Militärs umgeben. In diesem Umfeld machte man Mitte der 70er Jahre – Tati war 45 – die Regierung, die „Peronisten“, für das Chaos und die Gewalt im Land verantwortlich. Nur ihr Sohn Alejandro Almeida, Student und Sozialaktivist, schlug aus der Art und distanzierte sich von den Militärs, die „Gorillas“ genannt wurden. Seine einzige Vertraute in der Familie war seine Mutter. „Diesen Gorilla hier mag ich“ pflegte er zu sagen.

Nie wäre Tati auf die Idee gekommen, dass es nicht die Peronisten, sondern rechtsextreme Armeekreise waren, die für die Entführung ihres Sohnes am 17. Juni 1975 verantwortlich waren. Als die Peronisten 1976 weggeputscht wurden, freute sie sich noch: „Die schwarze Scheiße geht“, hieß es damals. Dabei wurde der Bock gerade zum Gärtner.

„Wer fehlt dir?“

Das musste Tati allmählich schmerzvoll lernen. Was hätte sie vorher mit diesen Frauen verbunden, die jeden Donnerstag mit ihren weißen Kopftüchern in der Innenstadt demonstrierten? „Die hätten mich doch eigentlich für eine Spionin halten müssen – bei meiner Herkunft.“ Doch die einzige Frage der „Mütter“ lautete: „Wer fehlt dir?“

„Wie riefen: Wir wollen sie lebend wiederhaben – dabei waren sie längst tot.“

—  Zitat: Tati Almeida

Die so verschiedenen Frauen wurden geeint durch das gemeinsame Schicksal. „Wir wollten alle wissen: Wer hat das getan? Damals konnten wir uns das Ausmaß der Verbrechen gar nicht vorstellen. Wie riefen: Wir wollen sie lebend wiederhaben – dabei waren sie längst tot.“ Erst nach Jahren habe sie sich eingestehen können: Mein Kind ist tot. Und das, weil er ein Linker gewesen ist. Aus Protest nahm Tati – in Argentinien unüblich, denn Frauen behalten ihren Mädchennamen - den Namen ihres Sohnes an: Almeida. „Der Gorilla hat sich rasiert.“

Noch immer verlangen die Madres Gerechtigkeit – und sie verehren den 2010 gestorbenen Staatspräsidenten Nestor Kirchner (2003–2007), weil er nach 20 langen Jahren endlich die Amnestiegesetze für Diktaturverbrechen kassierte. Bis heute murmeln viele in Argentinien, es habe sicher einen Grund gehabt, dass die 30.000 damals verschwanden. „Wir Madres sagen voller Stolz: Ja, genau, das hatte einen Grund! Das waren Menschen mit Visionen, keine Flaschen und Wendehälse.“ Tati Almeida hat drei Söhnen das Leben geschenkt; inzwischen ist sie Uroma. Und doch: Auf die Frage „Wer fehlt dir?“ würde sie auch heute noch ebenso antworten wie vor 35 Jahren.

Von Alexander Brüggemann