„Die Situation ist alarmierend!“
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Haiti

„Die Situation ist alarmierend!“

Seit November 2011 ist Bischof Chibly Langlois Vorsitzender der Haitianischen Bischofskonferenz. Im Interview schildert der 54-Jährige die aktuelle Lage in seinem Heimatland. Und erklärt, warum er sich bisweilen auch einmal positivere Berichte aus und über Haiti wünscht.

Erstellt: 17.12.2012
Aktualisiert: 15.11.2022
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Seit November 2011 ist Bischof Chibly Langlois Vorsitzender der Haitianischen Bischofskonferenz. Im Interview schildert der 54-Jährige die aktuelle Lage in seinem Heimatland. Und erklärt, warum er sich bisweilen auch einmal positivere Berichte aus und über Haiti wünscht.

Frage: Herr Bischof Langlois, zuletzt stand Haiti Mitte Oktober nach dem Hurrikan Sandy in den Schlagzeilen. Wie sieht es aktuell in Ihrem Heimatland aus?

Langlois: Der Hurrikan hat besonders im Süden von Haiti schwere Schäden angerichtet. Hinzu kommt, dass die Folgen des Erdbebens von 2010 immer noch nicht überwunden sind – trotz der großzügigen Hilfe aus dem Ausland. Auch drei Jahre danach fehlt es an vielem: an Infrastruktur, an Arbeit, an Wohnraum und an Land, das bewirtschaftet werden kann.

Frage: Das sind keine guten Nachrichten.

Langlois: Die Situation ist alarmierend, auch die Regierung sieht das inzwischen so. Weil der Hurrikan die Äcker verwüstet hat, stehen viele Familien jetzt praktisch vor dem Nichts. Die mangelhafte Ernährungslage ist derzeit unser Hauptproblem. Und wird sich in den kommenden Wochen möglicherweise noch verschärfen.

Frage: Was kann die Kirche tun?

Langlois: Die Kirche versucht vor allem, den Ärmsten zu helfen. Das machen wir insbesondere über die Caritas. Wir verteilen zum Beispiel Lebensmittel, statten die Kinder mit Lernmaterialien aus oder helfen den Menschen beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser. Das alles wäre aber ohne unsere Partner nicht möglich.

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Frage: Mit wem arbeiten Sie dabei zusammen?

Langlois: Etwa mit Caritas Internationalis, mit dem Catholic Relief Service oder den Partnerkirchen in anderen Ländern. Zusammen mit den französischen und US-amerikanischen Bischöfen, der lateinamerikanischen Bischofskonferenz CELAM sowie Adveniat als Vertreter der Kirche in Deutschland haben wir Ende 2010 die Initiative PROCHE ins Leben gerufen.

Frage: Wofür steht diese Abkürzung?

Langlois: Für „Proximité catholique avec Haïti et son église”. Auf Deutsch heißt das so viel wie „Partnerschaft mit Haiti und seiner Kirche“. Dabei steht der Wiederaufbau von Kirchen und Gemeindezentren im Mittelpunkt.

Frage: Gibt es momentan denn nichts Wichtigeres, als Gotteshäuser zu bauen?

Langlois: Sie müssen bedenken, dass die Kirche mit ihren rund 400 Pfarreien die einzige Institution des Landes ist, die auch den letzten Winkel von Haiti erreicht. Fast jede Gemeinde unterhält eine kleine Schule. Bildung ist mit das Wichtigste, was uns langfristig aus der Misere hilft. Deswegen beraten wir derzeit auch darüber, wie wir Ableger der katholischen Universität Notre Dame in Port-au-Prince in jedem Bistum etablieren können. Wir brauchen dringend gut ausgebildete Leute in Politik, Gesellschaft und Verwaltung.

Frage: Unterstützt der Staat diese Bemühungen?

Langlois: Der Staat steht auf dem Standpunkt, dass die Kirche selbst genug Geld und Personal hat, um das leisten zu können. Aber dem ist nicht so. Wenn Sie Lebensmittel in eine bestimmte Region transportieren wollen, dann brauchen Sie Lieferwagen und Sie brauchen Leute, die das alles dokumentieren. An alledem herrscht ein großer Mangel. Viele gebildete Haitianer sind in die USA oder nach Kanada ausgewandert. Das heißt, diejenigen, die solche Aufgaben übernehmen können, sind begehrt und entsprechend teuer. Fairerweise muss man hinzufügen, dass die Regierung ebenfalls mit diesen Problemen zu kämpfen hat.

Frage: Warum?

Langlois: Trotz eines Sparkurses ist zu wenig Geld in den öffentlichen Kassen. Steuererhöhungen helfen wenig weiter, weil die Steuermoral in unserem Land nicht sehr ausgeprägt ist. Kurzum: Auf die Regierung können wir nicht bauen, wir müssen uns selbst helfen.

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Frage: Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass Haiti eines Tages wieder auf eigenen Beinen stehen kann?

Langlois: „L'espoir fait vivre“ – „die Hoffnung hält uns am Leben“ lautet ein geflügeltes Wort auf Haiti. In uns schlummern viele Fähigkeiten. Wenn es uns gelingt, die zu aktivieren, dann bin ich zuversichtlich, dass wir irgendwann einen Ausweg finden.

Frage: Was kann die internationale Staatengemeinschaft dazu beitragen, was die großen Hilfsorganisationen?

Langlois: Es geht darum, wegzukommen von kurzfristiger Hilfe hin zu langfristiger Unterstützung. An erster Stelle sollten neben dem Bildungswesen Investitionen in die Landwirtschaft stehen. Dann gilt es zu überlegen, wie wir mehr Frauen und Männer in Lohn und Brot bringen. Aktuell haben wir eine Arbeitslosenquote von 80 Prozent und mehr! Die Menschen müssen wieder in der Lage sein, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Frage: Wir haben jetzt viel über Probleme und Nöte auf Haiti gesprochen. Stört es Sie, dass in den Medien nur diese Seite Ihrer Heimat wahrgenommen wird?

Langlois: Natürlich gibt es da so eine bestimmte Art, Haiti zu präsentieren, sowohl bei den Hilfsorganisationen als auch in den Massenmedien. Dafür habe ich bis zu einem gewissen Grad auch Verständnis. Man will Emotionen wecken durch Bilder und Berichte aus den schlimmsten Armenvierteln.

Frage: Aber?

Langlois: Ich würde mir wünschen, dass sich gerade Journalisten auch einmal Zeit nehmen und zeigen, dass es einen Mittelstand auf Haiti gibt. Dass sie zeigen, mit welchem Erfindungsreichtum die Menschen dem Mangel begegnen. Dass sie zeigen, wie gastfreundlich die Haitianer sind. Dass sie zeigen, mit wie viel Gottvertrauen die Bevölkerung den Katastrophen trotzt. Auch das ist Haiti!

 

Von Joachim Heinz

Haiti

Haiti mit seinen fast zehn Millionen Einwohnern ist das ärmste Land Amerikas. Im 18. Jahrhundert war noch das Gegenteil der Fall: Der Gesamtwert der Ein- und Ausfuhren der damaligen französischen Kolonie umfasste damals ein Viertel des gesamten Handelsvolumens des Mutterlandes Frankreich. Um die expandierenden Zuckerrohr- und Baumwollfelder zu bewirtschaften, wurden pro Jahr bis zu 30.000 Sklaven aus Afrika nach Haiti gebracht. Wirtschaftliche Motive waren ein Grund für die Widerstände gegen eine Autonomie des Karibikstaates, der sich am 1. Januar 1804 für unabhängig erklärte. Als erster europäischer Staat erkannte der Kirchenstaat 1860 die „Republik der Schwarzen“ an. Politische Instabilität, fortschreitende Umweltzerstörung und Überbevölkerung führten in der Folge zu einer Verelendung. Diktatoren, korrupte Regierungen und bewaffnete Banden beherrschen das Land seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Konstellationen. Besonders brutal war die fast 30 Jahre währende Diktatur von Francois Duvalier (1907–1971), genannt „Papa Doc“, und seinem Sohn Jean-Claude („Baby Doc“) Duvalier (1957–1986). Seit dem Sturz des linkspopulistischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, eines früheren katholischen Priesters, im Jahr 2004 befinden sich im Auftrag der Vereinten Nationen Tausende Blauhelme in Haiti. Sie sollen den totalen Zerfall der staatlichen Ordnung verhindern. Verheerende Verwüstungen in dem ohnehin krisengeschüttelten Land richtete am 12. Januar 2010 ein schweres Erdbeben an. Dabei kamen nach offiziellen Angaben rund 300.000 Menschen ums Leben. Die katholische Kirche Haitis, die aktuell zu den wenigen funktionsfähigen Organisationen im Land gehört, schätzt die Zahl der Toten auf bis zu eine halbe Million.

Weitere Informationen zu Haiti finden Sie auf der Adveniat-Webseite .