„Frust und Enttäuschung“
Dreieinhalb Jahre nach dem schwersten Erdbeben in seiner Geschichte findet Haiti immer noch keine Stabilität: Trotz der Unterstützung zahlreicher internationaler Hilfsorganisationen geht der Wiederaufbau nur schleppend voran. P. Attilio Stra ist seit 37 Jahren als Sozialarbeiter auf Haiti tätig. Im Interview spricht der Salesianerpater über die Schwierigkeiten beim Wiederaufbau, Projekte für Straßenkinder und die besondere Rolle der Kirche auf der Karibikinsel.
Aktualisiert: 15.11.2022
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Dreieinhalb Jahre nach dem schwersten Erdbeben in seiner Geschichte findet Haiti immer noch keine Stabilität: Trotz der Unterstützung zahlreicher internationaler Hilfsorganisationen geht der Wiederaufbau nur schleppend voran. P. Attilio Stra ist seit 37 Jahren als Sozialarbeiter auf Haiti tätig. Im Interview spricht der Salesianerpater über die Schwierigkeiten beim Wiederaufbau, Projekte für Straßenkinder und die besondere Rolle der Kirche auf der Karibikinsel.
Frage: Im Januar 2010 erlitt das Land das schwerste Erdbeben seiner Geschichte. Wie verläuft seitdem der Wiederaufbau?
P. Stra: Es geht nur sehr langsam voran, obwohl es sehr viele Helfer und viele unterschiedliche Hilfsprojekte gibt. Insgesamt sind mehr als 3.000 Nichtregierungsorganisationen (NROs) in Haiti aktiv. Dass der Wiederaufbau hier höchst unstrukturiert ist, überrascht also nicht. Es fehlt an Koordination untereinander.
Außerdem ist es wichtig, die Einheimischen bei den Hilfsmaßnahmen mit einzubeziehen. Von den 9 Milliarden Dollar, die nach dem Erdbeben ins Land kamen, gingen nur rund 10 Prozent an haitianische NROs bzw. den Staat. Den Rest erhielten ausländische Organisationen. Die haben im Großen und Ganzen einen guten Job gemacht, doch häufig gingen sie nicht auf die Bedürfnisse der Haitianer ein. So wurden zum Beispiel viele schöne Häuser gebaut, aber an Grundversorgung für die breite Masse fehlt es.
„Die Jugend hat auf die Chance gehofft, die Gesellschaft zu verändern, etwas Neues aufzubauen, nachdem alles zerstört war.“
Frage: Wie werden die internationalen Hilfsorganisationen von der Bevölkerung angenommen?
P. Stra: Jetzt, da viele der Helferinnen und Helfer weg sind und fast nichts hinterlassen haben, sind die Menschen verärgert und unglücklich. Sie sehen keine Zukunft für Haiti. Die Jugend hat auf die Chance gehofft, die Gesellschaft zu verändern, etwas Neues aufzubauen, nachdem alles zerstört war. Doch diese Hoffnungen wurden nicht erfüllt. Jetzt herrschen Frust und Enttäuschung in der Bevölkerung.
Frage: Was unterscheidet die sozialen Projekte der Kirche, zum Beispiel diejenigen der Salesianer, von den Projekten nichtkirchlicher Träger?
P. Stra: Sie unterscheiden sich in ihren Zielsetzungen manchmal gar nicht so sehr. Aber in drei Punkten gibt es wichtige Unterschiede: Respekt, Fürsorge und Glaube. Haitianer sind sehr gläubig: Liebe, Gerechtigkeit, Frieden und Vergebung sind Werte, die ihnen wichtig sind. Eine Entwicklung ohne Glaube und Spiritualität macht die Menschen nicht glücklich. Die technische Hilfe als humanitäre Hilfe nach der Katastrophe war richtig und wichtig, aber beim Wiederaufbau fehlten die genannten Werte. Die Menschen brauchen zu allererst Respekt. Nur den Bauch zu füllen, Möbel zu schenken und Häuser zu bauen, reicht nicht. Es braucht jemanden, der sich um sie kümmert.
Frage: Die Salesianer sind seit 75 Jahren in Haiti tätig. Welche sozialen Projekte betreuen sie dort?
P. Stra: Wir konzentrieren uns in unserer Arbeit vor allem auf Streetwork, Schul- und Berufsbildung. In Port-au-Prince unterrichten wir im Werk der sogenannten „Kleinen Schulen“ mindestens 20.000 Kinder in den Elendsvierteln. Für jedes von ihnen gibt es bei uns mindestens eine warme Mahlzeit am Tag. Es ist fast ein Wunder, wie das funktioniert. Darüber hinaus führen wir das Programm „Lakay“ durch, das Straßenkindern Schulunterricht und Berufsbildung ermöglicht.
Frage: Obwohl es Projekte wie „Lakay" gibt, leben in Haiti immer noch zahlreiche Kinder und Jugendliche auf der Straße. Was muss politisch und gesellschaftlich geschehen, damit sich diese Situation ändert?
P. Stra: Wir alleine können das Werk nicht vollenden. Die Gesellschaft muss sich ändern. In Lakay haben nur zwei von hundert Kindern und Jugendlichen Vater und Mutter, die zusammenleben. Viele Mütter müssen ihre Kinder alleine großziehen und für sie sorgen. Um genug für den Lebenserhalt ihrer Familien zu verdienen, arbeiten die Mütter oft von morgens 5:30 Uhr bis abends um 23 Uhr. Währenddessen sind die Kinder auf sich allein gestellt und tummeln sich auf der Straße, oft auch um selbst etwas Geld oder Essen zu erbetteln – oder leider auch zu ergaunern. Diesen Kindern bieten wir mit unseren Einrichtungen eine wichtige Alternative.
Darüber hinaus muss sich politisch etwas ändern: Die Regierungen Haitis haben es seit der Unabhängigkeit vor 200 Jahren nicht geschafft, den Staat so zu entwickeln, dass der nötige institutionelle Rahmen entsteht, den es braucht, um in der Weltwirtschaft konkurrenzfähig zu sein. Gesellschaft und Regierung schauen noch zu sehr auf das kurzfristige eigene Wohl. 70 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos. Jugendliche, die wirklich etwas verändern wollen, werden so schnell desillusioniert. Auch hier steuern wir mit unserer Arbeit gegen und geben der jungen Generation Werte und Orientierung mit auf den Lebensweg, die diese Gesellschaft und das Land verändern können.
Das Interview führte Andrea Burkhardt, Don Bosco Mondo.