
Kontaktbörse zwischen Ost und West
Vom 28. bis zum 30. August trafen sich rund 350 Teilnehmer aus 30 Ländern in Freising, um auf dem 17. Internationalen Kongress Renovabis über das Spannungsfeld von Solidarität und Freiheit in der Nach-Wende-Zeit zu sprechen. Im Interview mit dem Internetportal Weltkirche zieht der Hauptgeschäftsführer des katholischen Osteuropa-Hilfswerks, Pater Stefan Dartmann, eine Bilanz, warnt vor „Jammerkatholizimus“ und erklärt, dass „Wende“ nicht gleich „Wende“ bedeutet.
Aktualisiert: 11.07.2015
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Vom 28. bis zum 30. August trafen sich rund 350 Teilnehmer aus 30 Ländern in Freising, um auf dem 17. Internationalen Kongress Renovabis über das Spannungsfeld von Solidarität und Freiheit in der Nach-Wende-Zeit zu sprechen. Im Interview mit dem Internetportal Weltkirche zieht der Hauptgeschäftsführer des katholischen Osteuropa-Hilfswerks, Pater Stefan Dartmann, eine Bilanz, warnt vor „Jammerkatholizimus“ und erklärt, dass „Wende“ nicht gleich „Wende“ bedeutet.
Frage: Der 17. Internationale Kongress Renovabis ist am 30. August zu Ende gegangen. Welche Bilanz ziehen Sie?
Dartmann: Der Kongress war inhaltlich sehr stark, was auch viele positive Rückmeldungen der fast 350 Teilnehmer belegen. Das, was wir beabsichtigt hatten, geschah: Es kam zu einem intensiven Austausch mit und unter unseren Partnern aus 28 Ländern über die verschiedenen Dimensionen der Thematik „Frei und Solidarisch. Christen in Verantwortung für Europa“. Sehr deutlich wurde dabei, dass das, was wir in Deutschland „Wende“ nennen, in jedem Land mit anderen Daten und Ereignissen verknüpft wird. Was die spezifisch deutsche Sicht und Erinnerung angeht, wurde sie von Markus Meckel, Außenminister der DDR im Kabinett von Lothar de Maizière, dargelegt. Ansonsten funktioniert der Kongress wie eine riesige Kontaktbörse zwischen Ost und West.
Frage: Mit dem Kongress nahmen Sie vorab schon das 25-jährige Jubiläum der Europäischen Wende in den Blick, das 2014 gefeiert wird. Wie sind die Nach-Wende-Prozesse in Europa und speziell in den Ländern Osteuropas verlaufen?

Dartmann: Wenn ich gesagt habe, dass die einzelnen Länder mit „Wende“ sehr unterschiedliche Strömungen und Ereignisse verbinden, bedeutet das auch eine Relativierung des Jahres 1989, auf das wir Deutschen so fixiert sind. Die historischen entscheidenden Veränderungen in Polen, Litauen, aber auch in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Albanien begannen teilweise schon lange vor der Wende. Wenn wir dann an den blutigen Zerfall und den bis in die Mitte der 90-er Jahre reichenden Krieg im ehemaligen Jugoslawien denken, ist das wieder eine ganz andere, in diesem Fall tragische Entwicklung, die unter anderem nicht aufgearbeitete Kriegstraumata und dringliche Versöhnungsaufgaben bedeutet. Zwischen den neuen, bzw. wiedergeborenen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist mit der Aufnahme der baltischen Staaten in die Europäische Union ein neuer, „silberner“ Vorhang entstanden. Die Mauern in Europa sind also, beispielsweise aus der Sicht von Arbeitsmigranten in der Ukraine, noch lange nicht überall gefallen.
Frage: Gibt es Länder, in denen die Ziele „Freiheit“ und „Solidarität“ seit 1989 verfehlt wurden. Wenn ja, warum?
Dartmann: Bezogen auf konkrete Ländersituationen muss man in jedem Fall in Weißrussland und Moldawien und auch in der Ukraine von einer insgesamt schwierigen Situation sprechen. Und auf dem Balkan sehe ich vor allem die weitgehende Nichtaufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit als einen großen Fehler an, der sich tragisch auswirkt. Aber auch in Ländern wie Polen gibt es bis heute im Blick auf Freiheit und Solidarität ein Ringen darum, wie die wirtschaftlich erfolgreiche Entwicklung allen Polen zugutekommen kann.
Frage: Reinhard Kardinal Marx sprach auf dem Kongress von Christen als „Protagonisten der Freiheit“. Wie kann denn konkret jeder einzelne am Projekt „freies und solidarisches Europa“ mitarbeiten?
Dartmann: Kardinal Marx und die Europaabgeordnete Gräfin Thun haben gleich am Anfang des Kongresses jeder Form von „Jammerkatholizimus“ eine deutliche Absage erteilt. Vielleicht hat das auch die anderen Referentinnen und Referenten dazu ermutigt herauszustreichen, welch wichtige und positive Beiträge die Kirche in diesem neuen Europa auch und gerade unter seinen veränderten Bedingungen zu leisten vermag. Mich selbst erinnerte die wirklich begeisternde Rede des Kardinals an etwas, was sein verstorbener Kölner Kollege, Joseph Kardinal Höffner, einmal gesagt hat: „Wir Christen stehen nicht mit mürrischem Gesicht am Zaun der Welt von heute. Wir schauen nicht ärgerlich zu, was drinnen geschieht, sondern wir steigen über den Zaun, um mitten in der Welt gegenwärtig zu sein: als Sauerteig, als Salz der Erde, als Licht der Welt.“ Ich glaube, dass dieses genau die Grundüberzeugung auf dem Kongress war und dass dieser positive Geist angesteckt hat.
Frage: Welche Rolle spielt Renovabis bei der Gestaltung des Projekts „Europa“?
Dartmann: Wir sind mit dabei, wir geben Anstöße, bauen Brücken, schaffen Foren, initiieren Begegnungen und Diskussionen, helfen, wo wir um Hilfe gebeten werden. Die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer wirklich gesamteuropäischen Solidarität werden immer größer und die kirchliche Soziallehre ist heute aktueller denn je. Ich war immer ein überzeugter und begeisterter Europäer. Und das Pfingsten, von dem „renovabis“ seinen Namen hat, ist halt ein dynamischer Prozess. Und ich meine schon, dass die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht „geist-los“ zu denken ist und dass wir das Wirken des Geistes in Europa auch heute „live“ miterleben dürfen. Von daher hoffe ich, dass die „25 Jahre Wende“-Feiern im kommenden Jahr nicht primär rückwärtsgewandt werden, sondern immer auch die dynamische Gegenwart und die Zukunft in den Blick nehmen. So wie es dieser Kongress auch versucht hat – mit Erfolg, wie mir scheint.
Das Interview führte Lena Kretschmann.