Die Philosophie bunter Decken
Hinter der kleinen Kirche liegt das Gemeindezentrum. Der Kirchhof ist durch eine Mauer geschützt. Hier verteilt die Caritas heute Hilfspakete für syrische Flüchtlinge. Wir sind in Madaba, Jordanien, eine Stunde südlich von Amman.
Aktualisiert: 27.09.2023
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Hinter der kleinen Kirche liegt das Gemeindezentrum. Der Kirchhof ist durch eine Mauer geschützt. Hier verteilt die Caritas heute Hilfspakete für syrische Flüchtlinge. Wir sind in Madaba, Jordanien, eine Stunde südlich von Amman.
„Letzte Woche habe ich den ganzen Tag auf der Straße in einer Schlange gestanden und gewartet“, sagt Faizah. Am Ende ging sie leer aus. Die junge Syrerin floh im Herbst 2012 nach Jordanien, zusammen mit ihren vier Kindern. Jetzt wohnt sie in einem baufälligen Haus, zusammen mit ihrer Schwiegermutter und zwei Cousinen. Sie haben noch Glück gehabt: Vier Frauen und 14 Kinder.
„Hier mussten wir nicht warten“, sagt Faizah. Die Caritas hat ihre Hilfsgüter-Verteilung so organisiert, dass die Bedürftigen einen Termin bekommen. „Alle sind hilfsbedürftig, aber einige sind besonders hilfsbedürftig“, lautet das Credo der Helferinnen und Helfer.
Die Caritas in Jordanien hat 45 Jahre Erfahrung mit Flüchtlingen. Zur Ruhe gekommen ist die Region noch nie. „Wir haben die Katastrophe kommen sehen“, sagt Wael Suleiman, Leiter der Caritas Jordanien. Suleiman und sein Team arbeiten längst rund um die Uhr, um dem Ansturm der Notleidenden gerecht zu werden.
Die Zahl der syrischen Flüchtlinge hat nach Angaben der UNO die Millionengrenze lange übersprungen. Geschätzt die Hälfte davon landet in Jordanien, eine riesige Last für das kleine Land.
Frauen und Kinder fliehen mit den Kleidern am Leib, mit ein paar Habseligkeiten im Rucksack und dem letzten Geld in der Tasche. Sie fliehen, weil Verwandte, Freunde oder Nachbarn inhaftiert oder getötet wurden. Und jetzt neu, weil sie wie gelähmt sind von dem, was sie hören. Mal vage, mal konkret, mal weiter weg, mal aus dem Mund von Bekannten aus Damaskus.
Die Flüchtlinge sind froh, dass sie ihr Leben haben. Sie sind erschöpft, krank und traumatisiert. Es fehlt ihnen an allem. Die Frauen sind zu schwach, um ihre Säuglinge stillen zu können.
Der Krieg trifft unschuldige Kinder
Weil es nicht genügend Hilfsgüter gibt, um allen zu helfen, konzentriert sich die Caritas auf Familien mit mindestens vier Personen. Außerdem Schwangere und Kranke. „Wir beginnen immer mit der Registrierung“, sagt Yazan Haddadin, Leiter des kleinen Caritas-Büros in Madaba. Die Mitarbeitenden stellen ein paar Fragen. „Aber nicht zu viele, das schüchtert ein. Ein paar Tage später machen wir einen Hausbesuch.“
„Haus“ ist ein großes Wort für prekäre Flüchtlingsunterkünfte. Wir begleiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas vor Ort bei ihren Besuchen in Not-Unterkünfte. Wir treffen Menschen in Wohnungen ohne Möbel, in Zelten ohne Fußboden sowie notdürftig aus Dachlatten und Plastikfolien zusammengebauten Behausungen.
Inzwischen leben ganze Familien hier, der Krieg geht ins dritte Jahr, ein Ende ist nicht in Sicht. Die immer enger zusammen rückenden Menschen sind immer schutzloser Krankheiten und Epidemien ausgesetzt. Würden Sie Ihre Schwester abweisen, die lange in Syrien ausgeharrt und nun ebenfalls erschöpft vor Ihrem Notquartier ankommt?
Herumirrende Flüchtlinge – was soll das sein?
In den Medien hat sich aktuell die Formulierung „herumirrende Flüchtlinge in Syrien“ durchgesetzt. Diese Bezeichnung ist völlig unzutreffend. Welche Schwangere würde nicht weiterziehen, wenn das Krankenhaus in der Stadt, wo Hoffnung auf Unterkunft bestand, zusammen gebrochen ist? Wenn ein Familienmitglied einen Arzt benötigt? Wenn die Kinder keinen Fuß vor die Tür setzen können, ohne in Mienenfelder zu laufen?
Zurück auf dem Kirchhof in Madaba. Pro bedürftige Familie gibt es vier bunte Decken und einen Behälter mit Hygieneartikeln. Nein, das schützt nicht gegen Giftgas. Bei Bedarf gibt es besondere Gutscheine, etwa für Babynahrung und Medikamente.
Die Decken wurden in Handarbeit hergestellt. „Wir wollen die Menschen ermutigen, so etwas auch selber zu nähen“, sagt Yazan Haddadin. „Der bunte Stoff bringt Farbe in die tristen Unterkünfte. Die Decken sind zudem ein Wiedererkennungs-Merkmal.“
Haddadin begann als Freiwilliger bei der Caritas. Über 1.000 Helferinnen und Helfer wurden bisher gewonnen, das ist ein kleines Wunder. Als der Strom der Flüchtlinge aus Syrien anschwoll, bekam Haddadin einen festen Job im Team.
Ein Mittel gegen Kopfläuse
Ahmad ist mit seiner Mutter gekommen, um ihr beim Tragen zu helfen. Seine Mutter weiß nicht, ob ihr Mann noch lebt. Und sie hat ein ganz praktisches Problem: Die Mädchen haben Kopfläuse.
„Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist bitter“ haben wir früher gesagt. Selbst die improvisierteste Unterbringung abseits der umkämpften Zonen ist besser, als in den eigenen vier Wänden vom Krieg überrollt zu werden.
Die bekannteste Unterbringung für Flüchtlinge sind Camps. Wir kennen sie aus den Medien. „Camps sind inhuman, ein Ghetto voller Menschen in Not. Keine Nachbarschaft, keine Möglichkeit für die Menschen Arbeit zu finden. Alles muss von Grund auf aufgebaut werden, das macht sie obendrein zur teuersten Lösung“, sagt Wael Suleiman, Leiter der Caritas Jordanien.
„Wir helfen auch den einheimischen Familien“
Die Caritas Jordanien setzt auf Unterbringung in Familien und in leeren Wohnungen. „Wir helfen auch den einheimischen Familien“, sagt Suleiman. „30 Prozent der Hilfe kommt einheimischen Familien zugute. Durch die Hilfe der Caritas werden sie in den Stand gesetzt, Flüchtlinge aufzunehmen.“ Das Geld dafür stammt auch aus Deutschland, etwa vom Auswärtigen Amt. Doch ohne private Spenden geht es nicht.
Elija in der Wüste
Das Boden-Mosaik der griechisch-orthodoxen Kirche in Madaba ist weltberühmt. Es zeigt das alte Palästina, die älteste erhaltene Darstellung des Heiligen Landes, bestehend aus 2,3 Millionen Steinchen. Wenn man die außer Landes wartenden Flüchtlinge und die innerhalb von Syrien geflohenen Menschen zusammenrechnet, wird diese Zahl längst übertroffen. Es ist eine ungeheure Katastrophe.
Die Caritas bietet mehr als Hilfsgüter. Sie führt auch Kurse durch, um Menschen auf die Zeit nach dem Krieg vor zu bereiten. „Unsere Botschaft lautet: Du bist ein Flüchtling und weißt daher, welche Hilfe sie brauchen“, sagt Suleiman. „Du kannst etwas für dein Land tun. Eine neue Zukunft für Syrien bauen. Wir müssen an den Frieden denken.“ Hierzu sind Freiwillige aller Religionen und Weltanschauungen willkommen.
„Syrien ist das verlassenste Volk der Welt.“
Aktuell arbeiten etwa 200 Hilfsorganisationen in Jordanien, nur noch eine Handvoll in Syrien direkt. „Wir werden auch noch da sein, wenn die anderen weitergezogen sind“, sagt Suleiman.
Menschen benötigen mehr als ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Hygieneartikel. Faizah und ihre Schwiegermutter nehmen die Decken und den Eimer mit den Hilfsgütern und machen sich auf den Weg. Vielleicht sind diese bunten Decken der erste Lichtstrahl am Ende eines langen Tunnels.
„Syrien ist das verlassenste Volk der Welt“, hat Rupert Neudeck Ende August gesagt. Er hat Recht. Eltern, die um das Leben ihrer Kinder fürchten, riskieren weite Wege und lebensbedrohliche Strapazen, um sie vor dem Gastod zu bewahren. Sie irren nicht umher – sie haben nackte Überlebensangst. Helfen wir ihnen. Durch Spenden für die Arbeit der Caritas in den Nachbarländern Syriens. Und durch politischen Mut. Gegen das Gas hilft dauerhaft nur ein einziges Mittel: Frieden.
Von Heribert Schlensok