Hunger nach Bildung in Chile

Hunger nach Bildung in Chile

Er selbst hat es geschafft – aber das war, bevor am letzten Tag der Pinochet-Diktatur (1973–1990) der Bildungssektor in Chile komplett an private Anbieter übertragen wurde. Erzbischof Fernando Chomali (56), Sohn eines palästinensischen Einwanderers, durfte noch kostenlos an der besten Universität des Landes Ingenieurwesen studieren, nur mit seinem Willen und Talent. Seine Geschwister wurden Mediziner.

Erstellt: 06.11.2013
Aktualisiert: 23.03.2023
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Er selbst hat es geschafft – aber das war, bevor am letzten Tag der Pinochet-Diktatur (1973–1990) der Bildungssektor in Chile komplett an private Anbieter übertragen wurde. Erzbischof Fernando Chomali (56), Sohn eines palästinensischen Einwanderers, durfte noch kostenlos an der besten Universität des Landes Ingenieurwesen studieren, nur mit seinem Willen und Talent. Seine Geschwister wurden Mediziner.

Doch so funktioniert das heute nicht mehr in jenem Land, das als einziges in Lateinamerika der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) angehört. Heute bleiben die sozialen Schichten sauber getrennt; nur die teuersten Unis verschaffen Zugang zu den besten Jobs. Und dabei ist die Examensnote meist sogar egal.

Die „Schweiz Lateinamerikas“

Chomali, Erzbischof der südchilenischen Großstadt Concepcion, ist Gast der diesjährigen Adventsaktion des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat; sie trägt den Titel „Hunger nach Bildung“. Bei seinen Gesprächen in Deutschland wird Chomali für mehr Bildungsgerechtigkeit werben, in seiner Heimat und auf dem gesamten Kontinent. Denn mehr Bildung ist die einzige Chance für Entwicklung und zur Bekämpfung von Armut. Chile ist zwar eine Art wirtschaftlicher Musterknabe, die „Schweiz Lateinamerikas“, und das vergleichsweise hohe durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen von rund 20.000 Dollar spiegelt auch einen etwas höheren Lebensstandard der ärmeren Bevölkerung wider. Dennoch ist die Einkommensschere zwischen Arm und Reich frappierend – und außer an kirchlichen Schulen und Hochschulen gibt es praktisch keine Chance zum sozialen Aufstieg.

„Chile kann in Lateinamerika eine bedeutende Rolle spielen“, meint Fernando Montes, Rektor der angesehenen Jesuiten-Universität Alberto Hurtado in Santiago und bildungspolitischer Berater mehrerer chilenischer Regierungen: „Aber es reicht nicht, bloße ökonomische Konzepte vorzulegen. Es gilt auch immer, die menschliche Komponente mitzubedenken.“ Heißt im Klartext: Chile ist zu marktliberal, zu technokratisch, zu wenig gesellschaftswissenschaftlich-philosophisch aufgestellt. Erzbischof Chomali analysiert: Was zählt, sind Herkunft und Geld. Chile habe in erster Linie nicht ein politisches oder wirtschaftliches, sondern ein moralisches Problem.

Bild: © Escher/Adveniat

Schwierigste Verhältnisse

Wie schlecht es um die Bildungschancen für die sozial Benachteiligten steht, zeigt sich in der katholischen Armenschule „Seine Heiligkeit Johannes XXIII.“ im Barrio La Legua der Hauptstadt Santiago. Hier, im schäbigen Drogenumschlagsplatz Nummer eins der Millionenstadt, wird abends regelmäßig geschossen. In dem Viertel gehen immer noch 300 Kinder überhaupt nicht zur Schule, berichtet Schulleiterin Maria Alejandra Bienavidez. Die 9- bis 15-jährigen Grundschüler kommen aus schwierigsten Verhältnissen: kaputte Familien, Arbeitslosigkeit, Drogen, häusliche Gewalt, nächtliche Razzien.

Vor allen anderen müssen die Lehrer emotionale Beziehungen zu den Kindern aufbauen. „Es muss ihnen Spaß machen, sonst kommen die meisten Schüler nicht, und sie lernen auch nicht. Viele der Eltern kümmern sich jedenfalls nicht darum.“ Bleiben die Schüler fern, dann bleibt den Lehrern nur der Besuch in den Häusern. „Das konnten und wollten auch nicht alle Kollegen“, sagt die Schulleiterin. In La Legua blieben nur die sozial Engagierten. „Wenn noch nicht mal der Lehrer hier an den Schüler glaubt, kann es nichts werden.“ Als wichtigstes Ziel des Schulbesuchs gibt Bienavidez aus, die Schüler müssten zumindest „die Chance bekommen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und zu entwickeln“.

Die Finanzierung funktioniert über ein staatliches „Kopfgeld“ pro Schüler – allerdings nicht nach eingeschriebenen Schülern, sondern nach jenen, die nachweislich auch am Unterricht teilnehmen. Die Johannes-XXIII.-Grundschule hat so ständig Schulden und knapst am niedrigsten Level des möglichen Personalstands. Aber, so Direktorin Bienavidez: „Was wir wollen, sind nicht vor allem viele, sondern gute Lehrer!“ Hunger mag es in Chile weniger geben als in anderen Ländern Lateinamerikas – doch der Hunger nach Bildung ist riesig in einer Marktwirtschaft ohne menschliche Komponente.

Von Alexander Brüggemann

Weitere Informationen zur Adventsaktion 2013 finden Sie unter www.adveniat.de oder in unserem Dossier .