„Die Islamisten sind immer noch stark“
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„Die Islamisten sind immer noch stark“

In der Nacht zum Montag hat das tunesische Parlament die neue Verfassung des Landes bestätigt, drei Jahre nach dem Sturz der langjährigen Regierung im „Arabischen Frühling“. Der Ordensmann der Weißen Väter Ramon Esheverria (71) lebt seit 23 Jahren in Tunis. In Interview warnt er vor zu großer Euphorie; die Regierung müsse nun erst einmal die wirtschaftlichen Probleme lösen.

Erstellt: 28.01.2014
Aktualisiert: 12.07.2015
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In der Nacht zum Montag hat das tunesische Parlament die neue Verfassung des Landes bestätigt, drei Jahre nach dem Sturz der langjährigen Regierung im „Arabischen Frühling“. Der Ordensmann der Weißen Väter Ramon Esheverria (71) lebt seit 23 Jahren in Tunis. In Interview warnt er vor zu großer Euphorie; die Regierung müsse nun erst einmal die wirtschaftlichen Probleme lösen.

Frage: Pater Ramon, das tunesische Parlament hat die neue Verfassung bestätigt. Zeit aufzuatmen, drei Jahre nach der Revolution?

Ramon: Es ist gut, dass es jetzt eine neue Verfassung gibt, die zudem sehr tunesisch ist. Die Präambel hat sich nicht geändert; es ist immer noch die Verfassung eines arabischen Staates. Wichtig war das politische Klima, die Proteste, die dazu beigetragen haben, dass Männer und Frauen gleichgestellt sind; dass es die Meinungsfreiheit gibt und ein Gesetz, das die Extremisten daran hindert, Menschen des Unglaubens zu bezichtigen und zu verfolgen.

Frage: Glauben Sie, dass dadurch politischer Gewalt vor allem durch Salafisten-Anhänger Einhalt geboten wird?

Ramon: Nein, die Salafisten können nach wie vor frei agieren. Am Samstag erst haben wieder religiöse Extremisten gegen die neue Verfassung protestiert, weil sie Meinungsfreiheit gewährt. Positiv ist aber, dass sich auch moderate Muslime immer mehr trauen, ihre Meinung frei zu äußern. Andererseits hat der politische Islam nach wie vor entscheidenden Einfluss darauf, dass die Verfassung funktioniert.

Frage: Aber die Ennahda-Partei hat sich doch aus der Regierung zurückgezogen?

Ramon: Islamistenführer Rachid Ghannouchi hat gesagt: Wir sind vielleicht nicht mehr an der Regierung, aber wir haben immer noch Macht. Das ist in der Tat so. Die Ennahda hat immer noch einen Großteil der Sitze im Parlament. Sie können die Regierung blockieren. Auch viele Ministerien sind noch mit Ennahda-Funktionären besetzt. Außerdem würden immer noch viele Menschen Ennahda wählen. In der Bevölkerung hat die Partei nach wie vor viele Anhänger. Jetzt kommt es eben darauf an, die Verfassung umzusetzen, sodass sie nicht „reine Fassade“ bleibt. Die Übergangsregierung muss die Wirtschaft des Landes in den Griff bekommen, denn die wurde in jüngster Zeit stark vernachlässigt. Wenn die Menschen Arbeit und Wohlstand haben, stärkt das auch die Demokratie.

Frage: War Ihre Ordensgemeinschaft in der Vergangenheit von Angriffen der Salafisten betroffen?

Ramon: Wir hatten eigentlich keine Probleme mit religiösen Fanatikern. Vonseiten der Islamistischen Regierung gab es positive Signale bis hin zu einem Treffen von Ex-Präsident Ghannouchi mit dem Bischof. Sicher gibt es auch Ausschreitungen von Salafisten, und es tut mir leid für jene, die von ihnen verfolgt werden. Dennoch verlieren hier auch Journalisten, Künstler und Andersdenkende zunehmend die Angst, ihre Meinung frei zu äußern. Viele Frauen gehen ohne Kopftuch auf die Straße. Abgesehen davon ist es aber wichtig, dass die Leute genug zu Essen haben und Arbeit finden.

Frage: Tunesiens Geschichte ist eine der interreligiösen Begegnung. Einst lebten Juden, Christen und Muslime hier friedlich zusammen. Haben Sie die Hoffnung, dass es wieder so werden kann?

Ramon: In Tunesien gibt es leider nur noch sehr wenige Juden. Es ist nach wie vor ein schwieriges Thema hier. Erst kürzlich hat es wieder Proteste gegeben, weil ein Jude für den Posten des Tourismusministers vorgeschlagen wurde. Auf akademischer Ebene immerhin ist der interreligiöse Dialog stark. Aber man muss bedenken, dass auch die Muslime in Tunesien nicht mehr so homogen sind wie früher. Sie stecken in einer Identitätskrise – und da gibt es keinen Platz für interreligiösen Dialog. Im Alltag würde ich mir ein stärkeres Miteinander wünschen.

Das Interview führte Claudia Zeisel.

Weiße Väter

Der Orden der „Weißen Väter“ wurde 1868 durch den damaligen Erzbischof von Algier, Charles Lavigerie (1825–1892), gegründet. Ihr offizieller Name lautet „Missionsgesellschaft der Afrikamissionare“. Im Jahr darauf entstand auch ein weiblicher Zweig, die Weißen Schwestern. Die landläufige Bezeichnung der Weißen Väter knüpft an das weiße Ordensgewand an. Lavigerie setzte sich besonders für den Kampf gegen Sklaverei ein. In Reden und Publikationen in Europa forderte er ein Ende des Menschenhandels. 1878 ernannte Papst Leo XIII. (1878–1903) Lavigerie zum Apostolischen Delegaten für Zentralafrika und damit zum Beauftragten für die Mission. In Tunesien widmeten sich die Weißen Väter dem christlich-islamischen Dialog. Dazu gründete der Orden 1937 das „Institut des Belles Lettres Arabes“ (IBLA), ein wissenschaftliches Institut mit zwei Bibliotheken zu arabischer Literatur. (KNA)