Anwalt der Unterdrückten

Anwalt der Unterdrückten

Es braucht keine Bestätigung für das Lebenswerk von „Dom Erwin“ Kräutler. Es steht für sich. Doch hätte es je einer Bestätigung bedurft, dann wäre es die Papstwahl von Jorge Mario Bergoglio im März 2013. An die Ränder gehen, sich auf die Seite der Entrechteten stellen – was Papst Franziskus fordert, hat der gebürtige Österreicher Erwin Kräutler über viele Jahrzehnte getan.

Erstellt: 11.07.2014
Aktualisiert: 12.07.2015
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Es braucht keine Bestätigung für das Lebenswerk von „Dom Erwin“ Kräutler. Es steht für sich. Doch hätte es je einer Bestätigung bedurft, dann wäre es die Papstwahl von Jorge Mario Bergoglio im März 2013. An die Ränder gehen, sich auf die Seite der Entrechteten stellen – was Papst Franziskus fordert, hat der gebürtige Österreicher Erwin Kräutler über viele Jahrzehnte getan.

Als „Amazonas-Bischof“ wird er landläufig bezeichnet; sein Bistum ist seit 33 Jahren die Prälatur Xingu, die flächenmäßig größte Diözese Brasiliens. Nun ist „Dom Erwin“ also sogar so etwas wie der Übersetzer von Papst Franziskus für den deutschsprachigen Raum geworden: Er lebt das vor, was der Papst fordert aus seiner lateinamerikanischen Perspektive und Lebenserfahrung heraus. Am 12. Juli wird Kräutler 75 Jahre alt – und er ist als Gesprächspartner gefragter denn je.

„Dom Erwin“ trägt gern Turnschuhe und einen schlichten Priesterornat. Die Mitra dagegen, die Kopfbedeckung der Bischöfe, hält er für eine „nostalgische Reminiszenz“ an kirchliche Herrschaftszeiten. Sie trägt er nur, wenn die brasilianischen Bischöfe gemeinsam auftreten. Nur drei Monate im Jahr sitzt er am Schreibtisch seines Bischofssitzes in Altamira. Sein Platz ist in den Gemeinden im Regenwald, die sonst nur selten einen Priester zur Messfeier haben; an der Seite der entrechteten Indios, deren Lebensraum von Großunternehmen zerstört wird. Kräutler ist ein Mann des geraden Wortes, auch wenn es bedrohlich wird. Wirtschaftsbossen und Landräubern, Bergwerksbetreibern, Holzhändlern und Großgrundbesitzern stellt er sich in den Weg.

Ohne Gemeinden bleiben Sakramente leer

Wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Koblach in Vorarlberg geboren, personifiziert „Dom Erwin“, Ordensmann der Missionare vom Kostbaren Blut, wie kaum ein anderer die Entwicklung der Kirche Lateinamerikas seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965). Den jungen Priester rief 1965 sein Onkel, Bischof Erich Kräutler – dessen Nachfolger er 16 Jahre später werden sollte – nach Brasilien. Dort lernte er zunächst eine klassische Seelsorge kennen, die den Priester vor allem als Massenspender von Sakramenten sah, die ohne jede Anbindung an eine Gemeinde blieben. „Ohne Gemeindeleben werden Sakramente zu fast magischen Ritualen“, beklagt Bischof Kräutler bis heute.

Sieben Menschen stehen betend um einen Tisch. An der Wand hängen Kreuze und Mariendarstellungen.
Bild: © Henning/Adveniat

Eine Basisgemeinde beim Gebet

Bei ihrer Generalversammlung in Medellin 1968 beschlossen die Bischöfe Lateinamerikas eine grundlegende Neuordnung der Seelsorge im Sinne des Konzils: eine Kirche, gemeinsam auf dem Weg. Die Bischöfe Amazoniens gehörten bei der Umsetzung zu den ersten und konsequentesten. Kleine Gemeinden mit viel Laienverantwortung, schon bald kirchliche Basisgemeinden genannt, sollten zur Keimzelle der Kirche werden – und die wenigen Priester sollten möglichst viel bei den Menschen sein. „Dom Erwin“ hat das über ein halbes Jahrhundert praktiziert.

Als Bischof von Xingu und als Präsident des CIMI, des Indianermissionsrates der Brasilianischen Bischofskonferenz, kämpft er für die Menschen im Amazonas, die Rechte der Ureinwohner und der Landlosen, für den Schutz des Regenwaldes. 2010 wurde er dafür mit dem sogenannten Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

Morde und Morddrohungen

Mehrere Mitarbeiter Kräutlers wurden ermordet, so etwa 2005 die US-Ordensfrau und Umweltaktivistin Dorothy Stang. Auch der Bischof selbst erhielt Morddrohungen. Er steht unter dauerndem Polizeischutz und kann seitdem seinen allmorgendlichen Fünf-Kilometer-Spaziergang nicht mehr am Fluss absolvieren, sondern nur noch innerhalb des Hauses: 75 Schritte auf, 75 Schritte ab.

1983 machte der „Amazonas-Bischof“ Schlagzeilen, als er, noch während der Militärdiktatur, von der Polizei verprügelt wurde. Er hatte sich mit Zuckerrohrschnittern solidarisiert, die seit fast einem Jahr auf ihren Lohn gewartet hatten. In ihrer Verzweiflung besetzten sie schließlich die zentrale Straße „Transamazonica“ in der Nähe der Bischofsstadt Altamira. Auch Kräutler, der zur Verhinderung einer Eskalation hergeeilt war, wurde als vermeintlicher Aufwiegler von den Sicherheitskräften angegangen. Journalisten dokumentierten, wie er zu Boden geworfen und abtransportiert wurde – ein internationaler Skandal.

Kräutler selbst meint, er habe damals nur seinen Job als Bischof gemacht: Er sei bei den Menschen gewesen, die ihn am meisten brauchten. Und die lohnten es ihm auf ihre Weise, scharten sich um ihn und schrien: „Lasst ihn los – er ist unser Bischof!“ Das war, so sagt er rückblickend, „für mich wie eine zweite Bischofsweihe“. 1987 wurde er bei einem mysteriösen Autounfall schwer verletzt – in einer Zeit, in der sich als CIMI-Präsident bei der verfassungsgebenden Versammlung dafür einsetzte, die Rechte der Indigenen in der neuen Verfassung zu verankern – was ihm auch gelang, gegen alle Anfeindungen.

„Ja, ich träume immer noch!“

Der Kampfeswille ist weiter da, die Empörung über Menschenrechtsverletzungen, soziale Missstände und das Riesenstaudammprojekt am Xingu-Fluss, durch das Zehntausende Menschen ihren Lebensraum zu verlieren drohen und das unübersehbare Folgen für die Umwelt zeitigen dürfte. Auch ein Gefühl der Ohnmacht ist manchmal da. Und doch sagt er: „Ja, ich träume immer noch“ – von einer gerechten und solidarischen Welt. Dafür zitiert Kräutler seinen Freund, Erzbischof Dom Helder Camara (1909–1999): „Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Anfang einer neuen Wirklichkeit.“

1985, als „Dom Erwin“ erstmals bei Johannes Paul II. im Vatikan war, seufzte der Papst über der Landkarte mit Kräutlers Diözese: „Zu groß!“. Und über die Zahl seiner damals 16 Priester: „Zu wenige!“ Heute sind es 26 – für eine inzwischen 15 Mal größere Zahl von Katholiken. Immerhin: Kräutler soll nun Pläne für eine Dreiteilung der Diözese vorlegen.

Mit seinem 75. Geburtstag muss er gemäß dem Kirchenrecht dem Papst seinen Amtsverzicht anbieten. „So kann es sein, dass ich gleich drei Nachfolger bekomme – damit käme ich ins Guinness-Buch der Rekorde.“ Arbeitslos wird Kräutler so oder so niemals werden. Unter anderem hat ihm Papst Franziskus angetragen, an dessen geplanter Umweltenzyklika mitzuarbeiten .

Von Alexander Brüggemann