„Wir fühlen uns wieder als Menschen“

„Wir fühlen uns wieder als Menschen“

37 junge Männer aus Nigeria, Gambia, Kamerun und Eritrea sind im März 2014 in das Flüchtlingswohnheim eingezogen, das die Diözese Rottenburg-Stuttgart im Lazarettbau des Klosters Weingarten, bisher Gästehaus der Akademie, zur Verfügung gestellt hat. Sie haben sehr unterschiedliche Lebensgeschichten und Schicksale. Aber eines ist ihnen gemeinsam: Hinter ihnen liegt eine kaum vorstellbare Odyssee, bis sie nach Deutschland gekommen sind.

Erstellt: 12.08.2014
Aktualisiert: 12.07.2015
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37 junge Männer aus Nigeria, Gambia, Kamerun und Eritrea sind im März 2014 in das Flüchtlingswohnheim eingezogen, das die Diözese Rottenburg-Stuttgart im Lazarettbau des Klosters Weingarten, bisher Gästehaus der Akademie, zur Verfügung gestellt hat. Sie haben sehr unterschiedliche Lebensgeschichten und Schicksale. Aber eines ist ihnen gemeinsam: Hinter ihnen liegt eine kaum vorstellbare Odyssee, bis sie nach Deutschland gekommen sind.

Und sie haben dies auf sich genommen, weil die Lebensbedingungen, denen sie zuhause ausgesetzt waren, noch viel schlimmer waren als alles, was ihnen an Strapazen und Ungewissheiten bevorstehen würde. Alle Flüchtlinge, die auf dem Weingartener Martinsberg Aufnahme gefunden haben, sind Christen.

„In Afrika kann man nicht sicher leben“, sagt Amadi.* Menschenrechte würden mit Füßen getreten. Willkürliche Verhaftungen seien an der Tagesordnung. Wer kein Geld habe, um die Polizei zu bestechen, lande im Gefängnis oder sei Gewalttätigkeiten ausgesetzt. Da mache es keinen Unterschied, ob man in Nigeria, in Kamerun, in Eritrea oder in einem anderen Land des schwarzen Kontinents lebe.

Flucht vor islamistischem Terror

Amadi selbst kommt aus Nigeria. Er war Lehrer an einer Grundschule. Viel möchte er über sich und seine persönliche Situation nicht sagen, denn seine Familie lebt noch in der Heimat, und er fürchtet um ihre Sicherheit. Bisher ist es ihm noch nicht gelungen, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Aber die Andeutungen, die er zu seinen eigenen Erlebnissen macht, decken sich mit dem, was fast tagtäglich den Medien zu entnehmen ist – ohne dass man sich hierzulande wahrscheinlich das ganze Ausmaß der beispiellosen Gewaltexzesse vorstellen kann, mit denen die teilweise aus Pakistan und anderen Ländern des Vorderen und Mittleren Orients oder aus Nachbarländern wie Mali, Sudan, Niger eingeschleusten islamistischen Fanatiker der Sekte Boko Haram die Menschen vor allem im Nordosten Nigerias terrorisieren und ihnen aufzuzwingen versuchen, was sie als Islam verstehen.

Bild: © Broch / Bistum Rottenburg-Stuttgart

Aber auch die Hauptstadt Abuja ist vor Bombenattentaten und Terroranschlägen nicht sicher. Amadi berichtet von Misshandlungen, Verstümmelungen, Morden besonders an Christen; wie Bomben in Kirchen explodiert seien; wie in einer Schule 14 Kinder nachts im Schlaf getötet wurden. (Die Entführung der 200 Schülerinnen fand erst nach diesem Gespräch statt.) Die Extremisten machen sich die instabile politische Situation des Landes, die Rivalitäten in der Regierung, die sozialen Missstände zunutze. Von Regierung und Militär fühlen sich die Menschen vollständig im Stich gelassen. So hat sich Amadi im vorigen Jahr auf den Weg gemacht: nach Norden, durch die Sahara; von Marokko aus ist es ihm dann gelungen, über das Mittelmeer nach Spanien zu kommen; und weil dort die Existenzbedingungen schwierig waren, wurde Deutschland zum Ziel seiner Hoffnung, in Freiheit leben zu können.

Mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer

Christopher kommt aus Kamerun. „Wollen Sie meine ganze Geschichte hören?“, fragt er – eher rhetorisch. Die Bruchstücke, die er zu erkennen ergibt, weisen auf eine verworrene Geschichte von Gewalt und Mord hin, die wohl politische Hintergründe hat und auch, wie es scheint, weit in ethnische Konflikte hineinreicht – und die ihn dazu zwingt, Hals über Kopf seine Heimat zu verlassen, um der akuten Bedrohung seines Lebens zu entkommen. Anfang 2014 war dies. Zwei Jahre lang war er anschließend unterwegs – zu Fuß: von Kamerun nach Nigeria, von dort nach Niger, dann über Algerien nach Marokko. Von Marokko aus ging es dann im Schlauchboot nach Spanien und von dort – wie auch immer – direkt nach Deutschland.

Odyssee von Eritrea nach Deutschland

Die längste Odyssee hat Massawa hinter sich. Er stammt aus Eritrea. Am 6. Juni 2008 sei er aufgebrochen, erzählt der junge Mann. Ebenfalls alles zu Fuß: zunächst nach Äthiopien, von dort aus nach Sudan. Dann via Sahara nach Libyen, wo er sich zwei Monate lang aufgehalten hat. Am 26. Januar 2014 schließlich gelang es ihm, über das Mittelmehr nach Italien zu kommen und sich von dort aus nach Deutschland durchzuschlagen. Was ihn zur Flucht bewogen hat? „Political reasons“, mehr möchte er nicht sagen. Seine Eltern leben noch in Eritrea und sorgen sich um ihren Sohn, ebenso wie er sich um sie. Nach Hause zurückkehren zu müssen, so befürchtet er, bedeute für ihn mit Sicherheit Gefängnis und Tod. Warum? Menschenrechte gebe es in Eritrea nicht, sagt er nur – in dem Land, das man auch schon als das „Nordkorea Afrikas“ bezeichnet hat und aus dem neben Syrien die meisten Menschen über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen versuchen. Vom Teenager bis ins hohe Alter müssen die Menschen – Frauen wie Männer – damit rechnen, zum Militärdienst gezwungen zu werden, was besonders für die jungen Rekruten auch die Form von Zwangsarbeit annimmt.

Jetzt sei er glücklich, hier zu sein, sagt Massawa – in Freiheit, in einem Land, in dem darauf Verlass ist, dass Menschenrechte Geltung haben. Obwohl es schwierig für ihn sei, auf Hilfe angewiesen zu sein und mit der fremden Sprache zurechtzukommen.

Dieses Gefühl teilen alle – trotz vieler Ungewissheiten, wie es mit ihnen weitergeht: im Frieden leben. Das größte Erlebnis, sagt Amadi, sei für ihn gewesen, wieder jede Nacht ruhig schlafen zu können. Während des Trips durch die Sahara sei es lebensgefährlich gewesen zu schlafen. Schon der Besitz einer Flasche Wasser hätte dazu führen können, ermordet zu werden. „Survival of the fittest“ sei diese Wüstenzeit gewesen.

Es sei ein großes Erlebnis für sie, dass der Bischof sie willkommen geheißen habe. Und dass sie jetzt bei der wunderschönen Basilika lebten. Und dass sie sich von den Menschen in Weingarten gut aufgenommen fühlten. „Wir sind hier zu Hause; das ist jetzt unsere Heimat.“ Und vor allem: „Wir fühlen uns wieder als Menschen.“

* Alle Namen geändert.

Von Thomas Broch, Diözese Rottenburg-Stuttgart

Aus: Der Geteilte Mantel. Ausgabe 2014. Mit freundlichem Dank für die Abdruckgenehmigung.