
Vor verschlossenen Türen
Am ersten Adventssonntag startet das katholische Lateinamerika Hilfswerk Adveniat seine Weihnachtsaktion . Diese dreht sich um die Situation der Jugendlichen in Lateinamerika. Warum viele von ihnen von einer rosigen Zukunft nur träumen können, erklärt Adveniat-Referent Thomas Wieland im Interview.
Aktualisiert: 12.07.2015
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Am ersten Adventssonntag startet das katholische Lateinamerika Hilfswerk Adveniat seine Weihnachtsaktion . Diese dreht sich um die Situation der Jugendlichen in Lateinamerika. Warum viele von ihnen von einer rosigen Zukunft nur träumen können, erklärt Adveniat-Referent Thomas Wieland im Interview.
Frage: Herr Wieland, als Leiter der Projektabteilung sind Sie oft in Lateinamerika. Wie sieht die Lebenssituation junger Menschen dort aus?
Wieland: Junge Leute trifft man in Lateinamerika überall, vor allem in den großen Städten prägen sie das Straßenbild. Sie sind extrovertiert, sie erwarten etwas vom Leben, sie packen an, sie sind kontaktfreudig. Gleichwohl stoßen sie an dramatische Grenzen. Junge Menschen sind auf diesem Kontinent in ihrem Wohlergehen bedroht, wie keine andere Altersgruppe. Viele Jugendliche sterben gewaltsam.

Untersuchungen gehen davon aus, dass allein in den 267 brasilianischen Großstädten zwischen 2006 und 2013 mehr als 33.000 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren gewaltsam ums Leben kamen. Jugendliche finden keinen Zugang zu guten weiterführenden Schulen oder zu Berufsausbildungsinstituten und Universitäten, weil diese sich als Wirtschaftsunternehmen verstehen und hohe Studiengebühren verlangen. Jugendliche müssen in prekären Arbeitsverhältnissen Geld verdienen, besonders junge Frauen die früh Mutter werden. Um es in einem Bild zu sagen: Jugendliche stehen auf staubiger Straße vor einem riesigen verschlossenen Tor, hinter dem ein herrlicher Garten liegt. Die Schlüssel um das Tor zu öffnen lauten: Gut situierte Herkunftsfamilie und helle Hautfarbe. Die Mehrheit bleibt trotz Fähigkeit und Willen auf der Straße.
„Jugendliche stehen auf staubiger Straße vor einem riesigen verschlossenen Tor, hinter dem ein herrlicher Garten liegt.“
Frage: Aus der „vorrangigen Option für die Jugend“ heraus stellen sich viele soziale bzw. pastorale Aktivitäten der Kirche Lateinamerikas auf die Seite der Jugendlichen. Wie sehen diese aus?
Wieland: Kirchliche Maßnahmen in Lateinamerika von, für und mit Jugendlichen kann man mit drei Adjektiven bezeichnen: Handfest, fromm, nah. Ausgangspunkt ist das Leben: Kein Platz für Hausaufgaben, keine Möglichkeit der Freizeitgestaltung, fehlende Schule, keine Arbeit, von Gewalt geprägte Beziehungen in der Familie oder im Umfeld. Die Lösungen sind pragmatisch: Ein Sportplatz, Hausaufgabenbetreuung durch ältere Schüler, Ausflüge, Hausbesuche, Jugendgruppen. Geprägt sind diese Initiativen durch christliche Feiern mit viel Musik, gerne auch charismatisch bewegt, und durch Nähe. Manchmal, jedoch eher selten, pflegt der zuständige Priester den Kontakt zu Jugendlichen. Man muss wissen, Pfarrer haben in der Regel riesige Gebiete zu betreuen. Oftmals arbeiten Ordensfrauen oder andere Gemeindemitglieder mit Jugendlichen.
Damit diese Initiativen sich nicht verzetteln, gibt es Abstimmung und Verständigung auf verschiedenen territorialen Ebenen, auch auf Lateinamerikaebene. Im Unterschied zu Deutschland, wo die verbandliche Jugendarbeit eine entscheidende Rolle spielt, geschieht in Lateinamerika die Koordination und die Ausbildung von Verantwortlichen der Jugendpastoral in Diözesen, Bischofskonferenzen, Ordensgemeinschaften, Basisgemeinden und geistlichen Bewegungen.
Frage: Wobei unterstützt Adveniat seine Partner im Bereich der Jugendarbeit?
Wieland: Unsere Partner bitten uns oft um Unspektakuläres: Vier Wände, Kost und Logis bei Fortbildungsveranstaltungen, ein Auto, Sprit und Busfahrkarten. Dafür geben wir Geld, denn Jugendpastoral geschieht vor Ort, dort wo junge Leute sich aufhalten. Deswegen sollen Schwestern in Armenvierteln leben und Jugendliche sich unter einem Dach versammeln können, nicht auf der Straße. Sport, Diskussion, Theater, Musik, Gebet wird so in einem angemessenen Ambiente möglich. Man darf nicht vergessen, die Straßen in den Armenvierteln Lateinamerikas sind gefährlich, es besteht die Gefahr, dass Jugendliche wegen eines Tatoos oder einer schräg aufgesetzten Mütze Leib und Leben riskieren.
Wir sind davon überzeugt: Die Antwort auf die Herausforderungen steckt in den Jugendlichen selbst. Sie fördern wir über Projekte, die ihrer Persönlichkeitsentwicklung dienen, die junge Leute befähigen ihre Welt zu verstehen, sich auszudrücken und sich in die Politik einzumischen. Wir unterstützen auch berufliche Orientierung und Ausbildung.
Frage: Bitte vervollständigen Sie folgende Sätze, Herr Wieland: Jugendlicher sein in Lateinamerika, das heißt ...
Wieland: … selbst an Leib und Leben gefährdet zu sein und gleichzeitig Zeit, Ideen und Power zur Gestaltung des eigenen Lebens und der Gesellschaft mitzubringen.
Frage: Der junge Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er braucht …
Wieland: … einen physischen Raum, um sich mit Gleichaltrigen treffen zu können, und er braucht Erwachsene, die ihn fordern und lassen.
Frage: Wenn ich könnte, würde ich eine Zukunft für die Jugendlichen in Lateinamerika erfinden, die …
Wieland: … friedlich ist und in der wir Fotos in Schulen, Unis und Berufsausbildungsstätten schießen können, auf denen junge Leute mit unterschiedlichen Hautfarben und Herkunftsfamilien und unterschiedlichen Geschlechts gemeinsam lernend an einem Tisch sitzen.
Frage: Deutschen Jugendlichen gebe ich auf den Lebensweg mit, dass …
Wieland: … es sich lohnt, einmal Menschen aus Lateinamerika oder der Karibik kennengelernt bzw. länger in einem Freiwilligenprojekt mit ihnen gelebt zu haben.
Das Interview führte Carolin Kronenburg.