Eine humanitäre Katastrophe
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Eine humanitäre Katastrophe

Christen im Irak ‐ Die Christen im Irak durchleiden derzeit eine der schwersten Krisen in ihrer fast zweitausendjährigen Geschichte im Zweistromland. Der Vormarsch der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) hat viele Christen zur Flucht aus ihren Heimatgebieten gezwungen, eine uralte Kultur droht unwiederbringlich zerstört zu werden. In einer neuen Arbeitshilfe informiert die Deutsche Bischofskonferenz über die Situation von bedrängten und verfolgten Christen im Irak. In dieser Broschüre berichtet der Patriarch der chaldäisch-katholischen Kirche, Louis Raphaël I. Sako, von der dramatischen Lage der christlichen Minderheit und erklärt, warum er trotz allem auf Dialog setzt.

Erstellt: 18.12.2014
Aktualisiert: 12.07.2015
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Die Christen im Irak durchleiden derzeit eine der schwersten Krisen in ihrer fast zweitausendjährigen Geschichte im Zweistromland. Der Vormarsch der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) hat viele Christen zur Flucht aus ihren Heimatgebieten gezwungen, eine uralte Kultur droht unwiederbringlich zerstört zu werden. In einer neuen Arbeitshilfe informiert die Deutsche Bischofskonferenz über die Situation von bedrängten und verfolgten Christen im Irak. In dieser Broschüre berichtet der Patriarch der chaldäisch-katholischen Kirche, Louis Raphaël I. Sako, von der dramatischen Lage der christlichen Minderheit und erklärt, warum er trotz allem auf Dialog setzt.

Frage: Wie schätzen Sie die derzeitige Situation der Christen im Irak ein?

Sako: Die Situation der Christen im Irak ist elend. Mehr als 120.000 Menschen sind aus ihren Dörfern geflohen und leben im Kurdengebiet. Sie brauchen eine gesicherte Unterkunft und Nahrung. Vielleicht brauchen sie auch Hoffnung, um in ihre Häuser, zu ihrem Eigentum und ihrer Arbeit zurückzukehren. In anderen Städten ist die Situation etwas besser, aber die Menschen stehen immer noch vor Herausforderungen: Es gibt Entführungen, Drohungen, ihre Häuser werden besetzt und sogar in ihren Büros wird Druck auf sie ausgeübt.

Frage: Wird der Exodus der Christen anhalten?

Sako: Der Exodus hält an, aber es sind eher die gut situierten Personen als die vertriebenen Familien, die auswandern. Sie haben Angst; sie denken, dass es keine Stabilität und Sicherheit geben wird. Sie haben das Vertrauen in die internationale Gemeinschaft verloren. Dem Westen geht es um wirtschaftliche Interessen und nicht um menschliche, ethische oder geistige Werte. Seine Politik ist nicht mehr von moralischen Grundsätzen geprägt. Von Menschenrechten zu sprechen, ist eine große Lüge. Die Amerikaner haben erst gehandelt, nachdem IS zwei amerikanische Journalisten im Irak enthauptet hat. Vertreibung und Auswanderung haben große Auswirkungen auf uns, Christen wie Muslime. Der Irak verliert einen unersetzbaren Teil seiner Gesellschaft, nämlich den christlichen. Damit ist eine ursprüngliche und alte Tradition in Gefahr!

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Frage: Können Sie uns anhand einiger konkreter Beispiele illustrieren, wie sich der Alltag der Christen im Irak – etwa in Bagdad oder Kirkuk – in den letzten Jahren verändert hat?

Sako: Von den vertriebenen Familien leben einige immer noch in Zelten, für andere hat die Kirche Häuser angemietet. Andere haben selbst Häuser gemietet. In Kirkuk, Bagdad und Basra fürchten sich die Christen vor dem, was als Nächstes kommt. Für sie gibt es keine Garantie für eine Besserung der Lage. Es braucht Zeit. Die neue Denkweise ist sektiererisch. Sunniten helfen Sunniten, Schiiten den Schiiten, Kurden den Kurden, Christen werden mit dem Westen gleichgesetzt. Vorher war das nicht so.

Frage: Aktuell wird der Irak zunehmend durch den Vormarsch der IS-Kämpfer destabilisiert. Wie erklären Sie sich den Erfolg von IS?

Sako: IS ist eine extremistische Organisation, geführt mit äußerster Brutalität, finanziell gut ausgestattet, mit modernsten Waffen ausgerüstet und in den sozialen Medien weit verbreitet. ISIS ist wie eine starke Mafia mit religiösen Grundsätzen. Sie kann Kämpfer aus der ganzen Welt rekrutieren. Raubüberfälle, Massenvergewaltigungen, Folter und Ermordung von Menschen, die als Nichtgläubige gelten, sind an der Tagesordnung. Die Terrororganisation hat damit begonnen, ein sunnitisches Kalifat gegenüber dem schiitischen Reich Iran zu gründen. IS ist eine potentielle Bedrohung für die ganze Welt!

Frage: Wird der Irak in einen sunnitischen, schiitischen und kurdischen Teil zerfallen?

Sako: Der Irak wird geteilt werden. Im Moment ist die Situation folgende: Kurdistan ist ein nichtdeklarierter Staat, im Sunniten-Dreieck hat die Zentralregierung keine Kontrolle mehr, und der Süden ist fast schiitisch.

Arbeitshilfe

Dieses Interview ist in der Arbeitshilfe „Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen – Irak“ erschienen. Auf der Webseite der DBK können Sie die Broschüre als PDF herunterladen oder bestellen.

Frage: Gibt es – trotz aller negativen Schlagzeilen – auch Hoffnungszeichen für die Zukunft des Irak?

Sako: Mit neuen Regierungen gäbe es eine echte Chance, aber mehr noch mit einem internationalen Bemühen um die Festlegung von Standards für eine Staatsbürgerschaft, in die alle Menschen in Würde und Gleichheit integriert wären, unabhängig von ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit. Die UN und andere Institutionen sollten auf eine Änderung der Verfassung und die Achtung der Menschenrechte drängen. Freiheit und Demokratie sind Konzepte, für die die Menschen geschult und vorbereitet werden müssen. Keine Macht der Welt kann sie mit Waffen erzwingen! Die Lösung liegt in der Erarbeitung neuer, angemessener Bildungsprogramme, um diese Ideologie auszumerzen.

Frage: Was können und sollen die katholischen Christen in Deutschland tun, um ihre Glaubensgeschwister im Irak zu unterstützen?

Sako: Wir brauchen ihre Solidarität, Nähe, Gebete und moralische Unterstützung, damit wir bleiben, ausharren und Christus und unserer christlichen Berufung treu bleiben. Wir glauben, dass Gott will, dass wir hier im Irak bleiben. Der Glaube ist eine Reise ins Licht, das den Weg weisen kann. Er ist wie eine Lampe, die unsere Nacht erhellt. Das hoffen wir und dafür beten wir täglich. Ich glaube noch an den Dialog.

Das Interview führte Gregor Buß am 27. September 2014.

Quelle: DBK-Arbeitshilfe „Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen – Irak“

katholisch.de: „Sie brauchen unsere Hilfe“ – Bischöfe stellen Arbeitshilfe zur Lage der Christen im Irak vor

Pressegespräch

In einem Pressegespräch zum Thema „Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen im Irak“ haben heute der Vorsitzende der Bischöflichen Kommission Weltkirche, Erzbischof Dr. Ludwig Schick, und der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Dr. Peter Neher, die Arbeitshilfe vorgestellt und über Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge im Mittleren Osten informiert. Die Statements von Erzbischof Dr. Schick und Prälat Dr. Peter Neher können Sie auf der Webseite der DBK nachlesen:

Zur Person

Louis Raphaël I. Sako ist Patriarch von Babylon der Chaldäer und somit Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche, der größten Kirche im Irak. Sako erhielt 2010 den Friedenspreis der internationalen katholischen Friedensbewegung Pax Christi für seine jahrelange interreligiöse Friedensarbeit in Kirkuk.

Gebetstag für verfolgte Christen am 26. Dezember

Die katholischen Bischöfe in Deutschland haben für den 26. Dezember zum Gebet mit verfolgten Christen in aller Welt aufgerufen. Die katholische Kirche begeht den 26. Dezember als Fest des heiligen Stephanus, der als erster christlicher Märtyrer gilt. Ein Plakat zum Gebetstag, Fürbitten und ein Gebetszettel können auf der DBK-Webseite heruntergeladen oder bestellt werden:

Initiative „Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen in unserer Zeit“

Der Gebetstag am 26. Dezember ist Teil der 2003 gegründeten Initiative „Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen in unserer Zeit“. Diese wurde von der Deutschen Bischofskonferenz ins Leben gerufen, um auf die Notsituationen von Christen in unterschiedlichen Teilen der Welt aufmerksam zu machen. Die Initiative veröffentlicht jährlich eine Informationsbroschüre mit wechselnden Themen- oder Länderschwerpunkten zur Lage verfolgter oder diskriminierter Christen.