
„Die Kleinsten sind die größten Verlierer“
Knapp eine Woche war Weihbischof Thomas Maria Renz aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Heiligen Land unterwegs. Gemeinsam mit 16 weiteren Bischöfen, darunter auch Stephan Ackermann aus Trier, wollte er sich die Situation der Christen vor Ort näher anschauen. In einem Gastbeitrag beschreibt er, welche Szenen ihn besonders berührt haben und warum stärkere Friedensbemühungen für das Heilige Land dringend notwendig sind:
Aktualisiert: 12.07.2015
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Knapp eine Woche war Weihbischof Thomas Maria Renz aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Heiligen Land unterwegs. Gemeinsam mit 16 weiteren Bischöfen, darunter auch Stephan Ackermann aus Trier, wollte er sich die Situation der Christen vor Ort näher anschauen. In einem Gastbeitrag beschreibt er, welche Szenen ihn besonders berührt haben und warum stärkere Friedensbemühungen für das Heilige Land dringend notwendig sind:
Beim 14. Internationalen Bischofstreffen im Heiligen Land war ich im Januar 2014 erstmals im Gazastreifen. Von diesem Besuch habe ich noch als besonders bedrückend in Erinnerung, wie perspektivlos die Zukunftsaussichten der vielen, vielen jungen Menschen dort sind: Von den 1,8 Millionen Menschen, die dort auf nur 365 km² Fläche leben müssen, sind 50 Prozent jünger als 20 Jahre! Zur äußeren Situation ihrer Unfreiheit und Bewegungseinschränkung kommt für sie eine hohe Arbeitslosigkeit von rund 50 Prozent hinzu. Die Zukunftsaussichten der allermeisten sind also so schon alles andere als rosig.
Und nun gab es zwischen unseren beiden Besuchen im Januar 2014 und Januar 2015 noch einen neuen Krieg im Gazastreifen , der vom 7. Juli bis 26. August offiziell 2.131 getötete Palästinenser forderte, von denen 70 Prozent zivile Opfer waren, darunter 501 Kinder und 257 Frauen. Mit einigen überlebenden Kindern sind wir bei einem Schulbesuch in Gaza persönlich ins Gespräch gekommen. Diese Begegnung mit Kindern und Jugendlichen in Gaza hat für mich den nachdrücklichsten Eindruck unseres diesjährigen Bischofstreffens im Heiligen Land hinterlassen. Diese Eindrücke führen mich zu einer Erkenntnis, zu einer Einsicht und zu einer Forderung.

Die Erkenntnis: Die Kleinsten sind die größten Verlierer des Gazakrieges. Papst Franziskus hat bei seinem Besuch in Bethlehem im Mai 2014 davon gesprochen, dass uns heute von Gott kein anderes Zeichen gegeben wird als das Zeichen des kleinen, wehrlosen Kindes, so wie es bei der Geburt Jesu das Zeichen für die Hirten war: „Ihr werdet ein Kind finden!“ In diesem Zusammenhang nannte der Papst das Kind ein „diagnostisches Zeichen, um den Gesundheitszustand einer Familie, einer Gesellschaft, ja der ganzen Welt zu erkennen“. Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann ist es um die Gesellschaft im Heiligen Land nicht gut bestellt, denn keines von den 501 im letzten Sommer getöteten Kindern ist ein Terrorist gewesen, sondern alle starben gänzlich unschuldig und völlig arglos.
Traurige und angsterfüllte Kinder
Bei unserem Besuch der Holy-Family-School in Gaza-City sagte uns ein Schüler: „Wir Kinder sind keine Kollerateralschäden des Krieges, sondern wir wollen wie alle andere Kinder auf der Welt in Frieden und Freiheit aufwachsen und leben dürfen!“ Aber die Kinder in Gaza haben in den letzten drei Jahren gleich drei Kriege miterleben müssen: im November 2012 (8 Tage), 2012/13 (51 Tage) und 2014 (51 Tage), in den letzten 5 Jahren sogar 4 Kriege. Deshalb sind die meisten Kinder in Gaza heute zutiefst verängstigt und traumatisiert und geben sich nicht der Illusion hin, bereits den letzten Krieg in ihrem Leben erlebt zu haben. Wir haben bei unserem Schulbesuch in Gaza in viele traurige und angsterfüllte Kindergesichter geschaut, aus denen deutlich herauszulesen war: Wir werden von den Erwachsenen, die ihre Konflikte nicht anders lösen zu können glauben als durch Raketen und Bomben, um unsere Kindheit und Jugend betrogen!
Die Einsicht: Der Schutz der Schwächsten muss im Konfliktfall eine zwingende Selbstverpflichtung aller Konfliktparteien sein. Was haben – um das Leiden der Kleinsten möglichst konkret und anschaulich zu machen – die vier Jungen verbrochen, die am Nachmittag des 16. Juli 2014, einem heißen Sommertag, der zum Verweilen am Strand einlud, dort beim Spielen von einer Rakete getroffen worden sind? Nachdem eine erste Rakete, die von einem israelischen Kriegsschiff abgefeuert wurde, eine leere Baracke am Strand getroffen hatte, rannten die Jungen in Panik Richtung Land, um dort Schutz zu suchen.
Reporter, die sich zufällig in der Nähe aufgehalten und von dort alles genau verfolgen konnten, berichteten, dass die Jungen, noch während sie über den Strand liefen, von einer zweiten Rakete getroffen worden seien, nur etwa 40 Sekunden nach der ersten Detonation. „Diejenigen, die gefeuert haben, haben offensichtlich so gezielt, dass sie die flüchtenden Überlebenden treffen“, berichtete ein Journalist. Vier Jungen wurden bei dem Angriff getötet , alle vier aus einer Familie: Mohammed (11), Ahed (10), Zakaria (10) und Mohammed (9). Drei weitere Jungen konnten sich schwer verletzt in ein Hotel retten, wo die Reporter erste Hilfe leisteten. Die verwundeten Kinder überlebten und sind heute, wie rund 400.000 andere Kinder im Gazastreifen, zutiefst traumatisiert, verängstigt und verstört.
Schutzlosigkeit der Schutzlosen geht weiter
Hat irgendjemand für diese schreckliche Tat die Verantwortung übernommen? Wird dafür jemals irgendjemand zur Rechenschaft gezogen? Und was muss eigentlich noch an Schrecklichem geschehen, damit allen Beteiligten die Sinnlosigkeit dieses in regelmäßigem Rhythmus von ein bis zwei Jahren wieder aufflammenden militärischen Konfliktes vor Augen geführt wird? Denn wofür sind diese 501 Kinder in Gaza im letzten Sommer letztlich gestorben? Was hat denn ihr Tod im Leben der Menschen dort verändert, wem hat er genützt? Hat er einem dauerhaften Frieden gedient oder diesen wenigstens ein bisschen wahrscheinlich werden lassen? Wer heute aus dem Gazastreifen zurückkommt, muss das ernsthaft bezweifeln.
Die Schutzlosigkeit der Schutzlosen geht aber auch nach dem vorläufigen Ende des letzten Gazakrieges unvermindert weiter: Über 100.000 Menschen haben in diesem Krieg ihre Häuser und Wohnungen verloren und sind jetzt im Winter oft schutzlos der Kälte ausgesetzt. Kurz bevor wir jetzt bei winterlichen Temperaturen den Gazastreifen besucht haben, sind dort mehrere Säuglinge oder Kleinkinder erfroren. So zeigt der Gazakrieg 2014 bis heute deutlich die immer hässliche Fratze jedes Krieges, dessen größte Verlierer zumeist die Kleinen und Schwachen, die Kinder und Schutzlosen sind.
Für Frieden völlig neuer Ansatz nötig
Die Forderung: Eine ganz neue Friedenspädagogik ist nötig, um aus dem Teufelskreis von Hass und Gewalt herauszukommen. Weil offensichtlich auf keiner Seite der Konfliktparteien im Gazakonflikt ein ernsthafter politischer Wille für einen dauerhaften Frieden und für echte Gerechtigkeit für alle Betroffenen zu erkennen ist, braucht es nach meiner Überzeugung einen ganz neuen Friedensansatz, der sozusagen bereits im Kindergarten beginnt und sich über die komplette Schulzeit hinzieht. Exemplarisch dafür könnte das Projekt „Kids4Peace“ in Jerusalem sein, das seit 2002 mit Hunderten von Kindern und deren Familien in Jerusalem und der Westbank in einem sechsjährigen, interreligiösen Friedensprojekt an einer neuen, friedlichen Gesellschaft arbeitet.
Für einen dauerhaften Frieden, der allen Menschen ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit garantiert, müsste also völlig neu, ganz von vorn und ganz von unten angesetzt werden mit einer Pädagogik des Friedens in den Kindergärten und in den Schulen. Nur so könnten friedensvoraussetzende Werte wie Respekt, gegenseitige Achtung, die unbedingte und unveräußerliche Würde eines jeden Menschen und Gerechtigkeit für alle von Grund auf neu gelernt, trainiert, gelebt und tradiert werden. In Interviews mit Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse der Rosary-Sisters-School in Gaza wurden diese nach ihren Erfahrungen mit dem Krieg im letzten Sommer befragt. Dabei sagten sie unter anderem: „Es war nicht leicht für uns, das alles mitanzusehen. Es war schockierend!" Und: „Alle Probleme könnten friedlich und ohne Krieg gelöst werden!“
Der Patriarch von Jerusalem stellte sich im Gespräch mit uns die Frage: „Wie kann man aus traumatisierten Kindern und Jugendlichen, die zum Teil schon den dritten Krieg in ihrem noch jungen Leben miterleben mussten, noch gute und friedfertige Menschen machen?“ Und Papst Franziskus hat den Christen im Nahen Osten in seinem Brief zum letzten Weihnachtsfest geschrieben: „Auch im Bereich des Erziehungswesens geht es um die Zukunft der Gesellschaft. Wie wichtig ist die Erziehung zur Kultur der Begegnung sowie zur Achtung der Menschenwürde und des unumschränkten Wertes eines jeden Menschen! … Wir brauchen vielmehr Friedenspläne und -initiativen, um eine globale Lösung der Probleme der Region zu fördern. Wie lange soll der Nahe Osten noch unter der Friedlosigkeit leiden? Wir dürfen uns nicht mit den Konflikten abfinden, als sei ein Wechsel nicht möglich!“
Von Weihbischof Thomas Maria Renz