Die Hoffnung stirbt zuletzt
Bild: © KNA

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Am 3. Juli 2014 um 8.25 Uhr hat sich das Leben von Wassiliy für immer verändert. In diesem Moment schlug im Zentrum von Nikolaiwka eine Bombe ein. Sie traf genau jenen Wohnblock, in dem Wassiliy mit seiner Frau lebte. Elf Bewohner kamen ums Leben, darunter seine Frau. „Erst einige Tage später haben wir sie unter den Trümmern gefunden“, erzählt der 58-jährige. Der Leichnam sei völlig entstellt gewesen. Er selbst blieb unverletzt, sagt er – äußerlich.

Erstellt: 06.02.2015
Aktualisiert: 12.07.2015
Lesedauer: 

Am 3. Juli 2014 um 8.25 Uhr hat sich das Leben von Wassiliy für immer verändert. In diesem Moment schlug im Zentrum von Nikolaiwka eine Bombe ein. Sie traf genau jenen Wohnblock, in dem Wassiliy mit seiner Frau lebte. Elf Bewohner kamen ums Leben, darunter seine Frau. „Erst einige Tage später haben wir sie unter den Trümmern gefunden“, erzählt der 58-jährige. Der Leichnam sei völlig entstellt gewesen. Er selbst blieb unverletzt, sagt er – äußerlich.

Oft kommt Wassiliy zu jener Stelle, an der einst sein Wohnhaus stand. Der Schutt liegt noch dort. Ein Blumenkranz erinnert an die Toten. Das Loch klafft in der Häuserzeile wie ein stummes Mahnmal, in dem die ganze Sinnlosigkeit des Krieges deutlich wird. Nikolaiwka, nahe der Stadt Slowjansk, war nie direktes Kriegsgebiet. Die Bombe vermutlich fehlgeleitet. Niemand will sagen, woher sie kam. „Ich kann die Angriffe nicht erklären. Ich kann den Krieg nicht erklären“, sagt Wassiliy.

Manchmal bekommt er Besuch von Zoja. Die 61-Jährige besitzt eine Wohnung im Wohnblock gegenüber. Tränen rinnen ihr über die Wangen, als sie erzählt, wie im Juli eine Granate in ihrer Wohnung einschlug und alles zerstörte. Sie habe Schutz im Keller gesucht, ihr Hab und Gut jedoch verloren. Dank eines Hilfsprojektes der Caritas steht die Außenmauer wieder, wurden Fenster und eine Eingangstür eingebaut. Doch für eine Wohnungseinrichtung fehlen Zoja die Mittel.

Anlaufstelle der Caritas für Flüchtlinge

Der Krieg kam im vergangenen Sommer nach Slowjansk. Die einstige Hochburg der Separatisten im ostukrainischen Bezirk Donezk wurde allerdings bald von der ukrainischen Armee zurückerobert. Im Zentrum von Slowjansk richtete die Caritas eine Anlaufstelle für Flüchtlinge ein. Rund 1.300 Flüchtlinge habe man bislang registriert, heißt es. Umgerechnet 300 Euro Starthilfe erhalten sie, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen: Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, Medikamente.

Bild: © KNA

In einem Plattenbau im Zentrum lebt die 30-jährige Julia mit ihrer Familie. Sie stammt aus dem Ort Horliwka nahe Donezk, mitten im umkämpften Gebiet. Im Juli sei ihr Zuhause über Nacht zwischen die Fronten geraten, erzählt sie. Nach furchtbaren Stunden im Keller packten Julia und ihr Mann die Koffer und flohen mit den beiden Kindern Richtung Westen. „Wir wissen nicht, wer geschossen hat, wir sind einfach nur weg“, erzählt sie mit leiser Stimme.

Mit dem Auto schafften sie es nach Slowjansk. Der elf Monate alte Kyrill versteht noch nicht, was geschehen ist, doch der neunjährige Maxim leidet unter Alpträumen. Deshalb hat die Familie die Hilfe eines Psychologen in Anspruch genommen. Maxim ist kein Einzelfall. Bis zu 80 Prozent der Kinder aus den Kriegsgebieten seien schwer traumatisiert, erzählt der Präsident der ukrainischen Caritas, Andrij Waskowycz. Mit den Folgen dieses Krieges werde die Ukraine noch lange zu kämpfen haben.

Über eine Millionen Menschen auf der Flucht

Rund 1,3 Millionen Menschen sind bislang vor dem Krieg in der Ostukraine geflohen. Ein Drittel, rund 400.000, sind Kinder. Mehr als 5.000 Todesopfer haben die Auseinandersetzungen laut UN-Angaben gefordert.

Ohne Lebensmittel- und Kleiderspenden könnten sie nicht überleben, erzählt Julia. Arbeit zu finden sei unmöglich. Gerne würden sie zurückgehen, doch das sei unmöglich. „Wir telefonieren fast täglich mit unseren Verwandten und Freunden vor Ort. Es wird ständig geschossen. Alle wollen weg. Doch wegen der Kämpfe können sie nicht.“ An die Zukunft will die junge Mutter nicht denken. Trotzdem: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Diesen Spruch gibt es auch im Russischen. Besonders der Bevölkerung in Slowjansk ist Julia dankbar. „Die Menschen hier haben selbst viel mitgemacht. Dennoch helfen sie uns.“

Auch Caritaspräsident Waskowycz betont die große Solidarität der Ukrainer untereinander. Allein in Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, lebten derzeit rund 120.000 Binnenflüchtlinge – bei 1,4 Millionen Einwohnern. „Sie sind nicht sichtbar, es ist eine zweite Stadt in der Stadt entstanden“, sagt Waskowycz. Allerdings stoße die Gesellschaft an ihre Grenzen. Hilfe sei notwendig, doch die Staatskasse sei leer.

Von Georg Pulling

Link-Tipp

Auf der Webseite des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis erhalten Sie umfangreiche Informationen über die Situation in der Ukraine und das Engagement der Kirche vor Ort.